Die documenta und der Palast der Republik
Bis das mehrteilige Gemälde Der Mensch – Maß aller Dinge (1975), das Werner Tübke (1929–2004) für den Palast der Republik schuf, im April 1976 ausgestellt werden konnte, dauerte es. Zum Entstehungskontext des Palast-Bildes des Leipziger Malers gehören zahlreiche Skizzen, in denen sich Tübke mit dem Thema vertraut machte und Aspekte des komplexen Bildaufbaus erprobte. 1975 schuf er sogar eine kleinere Erste Fassung des Palast-Gemäldes, in der er sich mit dem Homo-Mensura-Satz des griechischen Philosophen Protagoras beschäftigte und die Thematik des Menschen als Maß aller Dinge erstmals ausformulierte.
Der Anlass für die Anfertigung des monumentalen Bildes, das aus mehreren Tafeln bestand, bildete der Bau des Palastes der Republik. Als prestigeträchtiger Parlamentssitz und »Volkshaus« von der sozialistischen Regierung geplant, war Tübke einer von vielen bildenden Künstler*innen und Kunsthandwerker*innen, die sich an der Ausgestaltung dieses Prachtbaus beteiligten. Die Idee war einfach. Im Herzen Ost-Berlins sollte ein Ort entstehen, an dem nicht nur die Partei- und Regierungsspitze aus- und einging, sondern der für alle offenstand: Für Besucher*innen »aus der ganzen Republik und aus aller Herren Länder«, um Konzerte und Theateraufführungen zu genießen, in verschiedenen Restaurants zu sitzen oder in der sogenannten Palast-Galerie Kunst zu betrachten.
Genau in dieser Galerie hing auch Tübkes Bild. Es war eines von 16 Gemälden, die von ausgewählten Malern (durchweg Männern) angefertigt worden waren, darunter Bernhard Heisig, Walter Womacka, Arno Mohr, Willi Sitte und Wolfgang Mattheuer. Jeder der 16 gestaltete sein Bild individuell. Die verbindende Aufgabenstellung lautete indes für alle gleich: »Dürfen Kommunisten träumen?«, war die Frage, die jedem der Maler als künstlerisches Thema im Vorfeld an die Hand gegeben worden war.
Im Falle Tübkes sah die Annäherung an die Thematik so aus, dass er auf fünf Tafeln die Grundformen menschlicher Beziehungen darstellte. Auf den beiden oberen Tafeln wurden die Verhältnisse zwischen einer Mutter und ihren Kindern als auch zwischen Mann und Frau thematisiert. Im unteren Teilbereich des Bildes präsentierte er Kriegsszenen sowie Momente des Todes und des Verderbens, jeweils dargestellt in Form antiker und biblischer Themen.
Tübke legte es offensichtlich darauf an, ethische Werte und deren Bedrohung zu kontrastieren, wobei sich die modellhafte Darstellung natürlich auch weiterführend auslegen ließ: Die Tafeln im oberen Bildbereich wurden zu DDR-Zeiten immer wieder gern als Ausdruck einer glorreichen Zukunft im Zeichen des sozialistischen Humanismus interpretiert. Die unteren Gemäldesequenzen wurden demgegenüber als Abbild einer auf Ausbeutung ausgerichteten kapitalistischen Gesellschaftsordnung gelesen.
Offenbar boten sowohl die inhaltliche Grundthematik der Palast-Galerie »Dürfen Kommunisten träumen?« als auch Tübkes individuelle Auseinandersetzung mit Protagoras‘ Homo-Mensura-Satz »Der Mensch ist das Maß aller Dinge […]« viele Spielräume. Das zeigte sich nicht zuletzt daran, dass das virtuose Werk auch noch ganz anders verstanden werden konnte. Wer sich darauf einließ, kam nicht umhin, die Frage zu stellen, ob der in der DDR geschätzte Maler Tübke hier nicht eigentlich seine eigene Singularität als Künstler in Szene setze. Diese Vermutung ergab sich anhand der Virtuosität des Bildes als auch hinsichtlich der Tatsache, dass Tübke von den ursprünglich sechs versprochenen Tafeln letztlich nur fünf ablieferte. Sollten ursprünglich in den Haupttafeln die Themen »Jugend und Alter«, »Mutter und Kind« sowie »Mann und Frau« dargestellt werden, fehlte in der Endfassung die Generationenfrage; das »Alter und die Jugend« ließ Tübke weg. Gewiss stand die in der DDR so wichtige Betonung der Zentralstellung des Menschen im Mittelpunkt des Bildes. Tübke selbst lobte 1976 das »große Vertrauen« und die »Achtung unserer Partei- und Staatsführung« bei der Wahl eines solch offenen Themas. Doch sein Polyptychon bekam durch die ungerade Tafelanzahl inhaltlich wie formal etwas Asymmetrisches – ein Eindruck, der sich auch auf den kuratorischen Gesamteindruck der Palast-Galerie und damit unweigerlich auf die Rezeption der anderen Kunstwerke von Willi Sitte bis Bernhard Heisig übertrug.
Die komplexen, in Der Mensch – Maß aller Dinge ausgehandelten Themen – die Fragen, wann und in welcher Form der Mensch als Maßstab gelte, welche kommunistischen Hoffnungen sich in der Thematik verbargen und wie viele Freiheiten für einen Künstler wie Tübke in der DDR eigentlich möglich waren –, brachte der Künstler ein Jahr später auf die documenta nach Kassel. Im Herbst 1976 war er einer von sechs Künstlern, die zum ersten und einzigen Mal zu dieser »wichtigsten Schau der westlichen Welt« aus der DDR eingeladen worden waren. Anlässlich der documenta 5 hatte es zwar 1972 schon den Versuch gegeben, Kunstwerke aus Ostdeutschland nach Kassel zu holen. Doch erst dem künstlerischen Leiter der documenta 6 Manfred Schneckenburger gelang es mit Hilfe der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin, die Parteiführung und den Verband Bildender Künstler der DDR zum Mitmachen an dieser westlichen »Monsterschau« (Richard Süden) zu bewegen.(1) Die documenta 6 1977 war folglich ein Novum und im Kontext der deutsch-deutschen Beziehungsgeschichte inmitten des Kalten Krieges einzigartig.
Es dauerte zwar, bis der vielbeschäftigte Maler auf die Einladung aus Kassel reagierte, doch als Tübke dann mit den Vorbereitungen begann, stand ein Bild von Anfang im Fokus: Die kleine Erste Fassung zur Malerei Der Mensch – Maß aller Dinge, die die ursprünglich sechs vorgesehenen Tafeln umfasste und sich auch sonst in der gestalterischen Umsetzung an vielen Stellen von dem späteren Palast-Bild unterschied.
Warum Tübke dieses Bild präferierte, kann heute nur noch vermutet werden. Vielleicht lag es daran, dass sich das Gemälde zu diesem Zeitpunkt in seinem Atelier in Leipzig befand, vielleicht ist es aber auch möglich, dass Tübke dieses Bild genauso bewusst auswählte, wie es auch für alle anderen für Kassel ausgesuchten Werken überliefert ist. Darunter befanden sich Schlüsselarbeiten seines Œuvres – allen voran Lebenserinnerungen des Dr. jur. Schulze III (1965), das Tübke mit Hilfe des Ministeriums für Kultur der DDR extra aus der Nationalgalerie in Ost-Berlin für Kassel ausleihen ließ.
Im Falle der sogenannten Ersten Fassung zur Malerei im Palast der Republik war sicher das »politisch-ideologische« Thema ein wichtiges Auswahlkriterium. Doch zugleich könnte Tübke auch die Chance gesehen haben, just mit diesem Bild für die Laufzeit der documenta 1977 zeitgleich an zwei der wichtigsten Ausstellungsorte in Ost und West vertreten zu sein. Galt der Palast der Republik als »Heimstatt der sozialistischen Kultur, des Frohsinns und der Geselligkeit«, also als Ausdruck des errungenen und gelebten sozialistischen Menschenbildes, stand die documenta seit ihrer Gründung 1955 für die kulturelle Westbindung der Bundesrepublik, für (kuratierte) Demokratie und mehr noch: für ein Bollwerk gegen den Osten, dessen künstlerische Produktion per se als politisch unfrei galt.
Folglich konnte die Wahl des Bildes als Statement gelesen werden. Mit dem Bildmotiv schien Tübke selbstverständlich den politischen Anspruch der SED zu unterstützen, dass es die harmonisch entwickelte sozialistische Persönlichkeit sei, die im Konflikt der Systeme den Sieg davontrage. Doch zugleich sendete der Künstler auch selbstbewusste Signale. Den Funktionären in Ost-Berlin machte er mit seiner Bildwahl deutlich, dass er selbstbestimmt über die Präsentation seiner Werke bestimme und weit über die DDR hinaus mit seinen Bildern gefragt war. An das westliche documenta-Publikum schickte er die Botschaft, dass Individualität und künstlerische Freiheit eine Frage des Könnens sei und es diese folglich auch in der DDR gebe.
Ob das documenta-Publikum diese Suggestionen allerdings mitbekam, ist nicht überliefert. Die Eröffnungstage der sechsten documenta waren trubelig und skandalbehaftet: Die beiden westdeutschen Künstler Markus Lüpertz und Georg Baselitz hatten noch vor der Eröffnung der Schau ihre Bilder aus Protest gegen die documenta-Beteiligung der DDR wieder zurückgezogen. Auch der in der DDR lebende Künstler A. R. Penck stellte nicht aus, was auf seinen Kölner Galeristen Michael Werner zurückging. Eine Gruppe aus der DDR geflüchteter Kulturschaffende sendete einen öffentlichen Protestbrief an Erich Honecker, um die Ungleichbehandlung von Künstler*innen in der DDR anzuprangern. Damit waren jene gemeint, die wie die Palast-Künstler Tübke, Heisig, Mattheuer und Sitte von Staatsseite hofiert wurden und auf die documenta reisen durften, und jene, die in der DDR wegen ihrer Kunst verfolgt wurden oder sogar im Gefängnis saßen. Außerdem hatten die documenta-Kurator*innen so viele Bilder geliehen, dass die Räume im Museum Fridericianum übervoll waren und in keiner Abteilung alle Bilder gehängt werden konnten. Stand den Künstlern aus der DDR in der Ost-Berliner Palast-Galerie ein zweistöckiges Foyer zur Verfügung – 86 Meter lang, 42 Meter breit und 8 Meter hoch –, waren die Räumlichkeiten auf der documenta »wie ein Käfig« und, so Wolfgang Mattheuer, geradezu prädestiniert dafür, das westliche Publikum in seiner vorgefertigten Annahme zu bestätigen, dass die DDR »eng« und ihre Kultur »unfrei« seien.(2)
Auch wenn in Summa – und trotz positiver Besprechungen durch Journalisten wie Eduard Beaucamp (FAZ) oder Peter Nöldechen (Westfälische Rundschau) – das westdeutsche Publikum wenig von der Malerei aus der DDR wusste, so gab es doch einige Interessierte, die das malerische Vermögen der Künstler und insbesondere das Tübkes würdigten. Der Sammler Peter Ludwig war einer von denjenigen. Der Aachener »Schokoladenfürst« und seine Frau Irene erwarben die Erste Fassung von Der Mensch – Maß aller Dinge im Nachgang der documenta. Heute befindet sich dieses Bild im Wiener mumok (Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien), während die finale Version von Der Mensch – Maß aller Dinge im Zuge des Abrisses des Palastes der Republik in die Obhut des Deutschen Historischen Museums in Berlin übergeben wurde.
Alexia Pooth ist promovierte Kunst- und Kulturhistorikerin, Forscherin und Kuratorin. Sie arbeitet zur deutsch-deutschen Kulturgeschichte sowie zu Ausstellungs- und Sammlungspolitiken. Seit Mai 2024 ist sie wissenschaftliche Leiterin der Kunstsammlungen für moderne und zeitgenössische Kunst an der Ruhr-Universität Bochum und wissenschaftliche Mitarbeiterin am dortigen Kunstgeschichtlichen Institut.
(1) Der Begriff findet sich bei Richard Süden: Gefälschte Dokumente. Über den Untergang der abendländischen Kunst in Kassel, in: Bildende Kunst, 11, 1959, S. 809–811. Auch von anderen Kritikern wie Lothar Lang oder Heinz Lüde-cke wurde der Begriff »Monsterschau« verwendet. (nach oben ↑)
(2) Vgl. Wolfgang Mattheuer: Notizen aus seinem Tagebuch zur »dokumenta 77«, in: Alexia Pooth: Exhibition Politics. Die documenta und die DDR, Bielefeld / Berlin 2024, S. 179-180. (nach oben ↑)
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