divider

An den Palast erinnern

von Anke Schnabel 14.07.2023, 29 Min. Lesezeit

Über die Erinnerungsarbeit am Humboldt Forum

Die Gespräche unseres Begegnungsformates »Palast-Treff« wurden zeichnerisch begleitet durch »graphicrecording.cool« – den Zeichnerinnen Johanna Benz und Tiziana Beck.
© graphicrecording.cool (Johanna Benz, Tiziana Beck) / Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss
0

Warum eigentlich an den Palast erinnern?

»Erst reißen Sie den Palast ab und dann wollen Sie an den Palast erinnern!?« Nicht nur einmal wurde ich wie auch einige meiner Kolleg*innen mit dieser Aussage konfrontiert. Dass ausgerechnet das Humboldt Forum den Palast der Republik zum Thema macht, scheint manchen Menschen als bitterer Hohn. Auch wenn wir als Angestellte der Stiftung Humboldt Forum nicht für den Abriss des Palastes verantwortlich sind, steckt doch eine gewisse Logik in diesem Satz: Der Palast der Republik wurde für den Bau des Humboldt Forums abgerissen. Das Humboldt Forum ist als Teilrekonstruktion des historischen Berliner Schlosses eine monumentale »gebaute Erinnerung« und als solche eine starke erinnerungspolitische Setzung, die andere Zeitschichten überschreibt. Die Stiftung Humboldt Forum begreift daher die Sichtbarmachung von verdrängten Zeit- und Erinnerungsschichten als eine ihrer Aufgaben. Insofern stimmt die Herleitung: Wir erinnern an den Palast der Republik, weil er abgerissen wurde und wir ihn in seiner Umstrittenheit und Symbolhaftigkeit für relevant halten.

© graphicrecording.cool (Johanna Benz, Tiziana Beck) / Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss

Der Palast der Republik wird nicht nur kontrovers, vielfältig und vielschichtig erinnert, sondern ist emotional sehr aufgeladen. Sein Abriss machte ihn zum Symbol für den Umgang der neuen Bundesrepublik mit der DDR-Vergangenheit. Für viele Menschen ist er unmittelbar und konkret mit Gefühlen der Entwertung der eigenen Biografie und des Verlustes verbunden. Diese Aufladung des Palastes nimmt das Projekt »Erinnerungsarbeit im Humboldt Forum« in seiner ersten Phase in den Fokus: Der Palast der Republik wird als viel besuchter Repräsentationsbau der DDR von 1976 bis 1990, als Ort des demokratischen Wandels 1989/1990 und als Streitfall im Rahmen der Schlossplatzdebatte ab 1990 zum Anlass, um über Erfahrungen in der DDR und im vereinten Deutschland zu sprechen.

© graphicrecording.cool (Johanna Benz, Tiziana Beck) / Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss

Wie machen wir Erinnerungsarbeit?

Erstens: Wir schaffen Begegnung und Austausch
Im Sinne des Forumgedankens und des Verständnisses von Museum als sozialen Ort schaffen wir Räume für Begegnungen und bringen Menschen miteinander ins Gespräch, z.B. im »Palast-Treff«. Hier treffen Besucher*innen, ganz gleich ob mit oder ohne eigene Erinnerungen an den Palast, an runden Tischen auf Expert*innen, die mit ihren eigenen Erinnerungen Impulse für die Gesprächsrunden geben. Bei unseren bisherigen »Palast-Treffs« sprachen wir beispielsweise mit: Gertraude Pohl über ihre Arbeit als Designerin für Farbgestaltung und Innenausstattung beim Bau des Palastes, Frank Schäfer über das »Showfrisieren« im Foyer und Jugendtreff, Roland Pröh über seine Arbeit als Barchef im »Spreebowling« und Sabine Bergmann-Pohl über die frei gewählte Volkskammer.

© graphicrecording.cool (Johanna Benz, Tiziana Beck) / Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss

Zweitens: Wir sammeln Erinnerungsstücke

Seit Anfang 2021 laden wir über Sammlungsaufrufe Menschen dazu ein, über persönliche Objekte mit uns ins Gespräch zu kommen. Wir nennen diese Objekte Erinnerungsstücke und meinen damit Dinge, die von ihren Besitzer*innen sorgsam bewahrt wurden, weil sie einen besonderen Wert für sie haben. Diese Dinge werden Ausgangspunkte für Gespräche. Einige Erinnerungsstücke haben wir bereits als Schenkungen in die Sammlung der Stiftung aufnehmen können. Einige weitere zeigen wir als Leihgaben in der geplanten Sonderausstellung zum Palast ab 16. Mai 2024.

© graphicrecording.cool (Johanna Benz, Tiziana Beck) / Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss

Drittens: Wir führen Interviews und Gespräche

Wir laden Menschen dazu ein, ihre Geschichte zu erzählen und halten diese Erinnerungen in Form von Video- und Audiointerviews fest. Auf diese Weise schaffen wir neue Quellen für die Geschichtsschreibung im Sinne der Oral History. (1) Wir begegnen damit der nach wie vor vorherrschenden Dominanz westdeutscher Deutungen in öffentlichen Diskursen sowie in der Geschichtsschreibung über die DDR. Die Interviews gehen in die Sammlung der Stiftung Humboldt Forum ein und werden Ausgangspunkte für unterschiedliche Ausspielungen und Verwendungszusammenhänge. Die erste umfangreiche Veröffentlichung wird im Rahmen der geplanten Sonderausstellung zum Palast der Republik stattfinden, in der Erinnerungen im Zentrum stehen. Ziel von künftigen Ausspielungen wird es sein, dem Thema Palast der Republik durch Vielstimmigkeit und Diversität gerecht zu werden, Perspektivwechsel auszulösen, die Verflochtenheit von Geschichten und Erinnerungen aufzuzeigen und die Perspektivität von geschichtlichen Betrachtungen deutlich zu machen.

© graphicrecording.cool (Johanna Benz, Tiziana Beck) / Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss

Uns interessiert, wie Menschen den Ort in ihrem Alltag erfahren haben: Welche persönlichen Bezüge haben Menschen zu dem Ort – damals wie heute? Welches spezifische Wissen haben ehemalige Palast-Angestellte? Welche Perspektiven haben ehemalige Besucher*innen auf den Ort und was denken Nicht-Besucher*innen, die den Ort bewusst gemieden haben? Und wie verändert sich die Perspektive im Laufe der Zeit? Welche biografischen Brüche haben sie erlebt? Was bedeutet das Verschwinden eines Ortes? Welche widerständigen Geschichten gibt es?

In den Gesprächen erfahren wir zum Beispiel nicht nur etwas über Strukturen und Abläufe im Arbeitsalltag, sondern auch über das Innenleben der Interviewpartner*innen: über persönliche Bedürfnisse, Wünsche, Enttäuschungen, Sehnsüchte, Herausforderungen und Haltungen.

Mit dem Palast der Republik können wir wie durch ein Brennglas auf die verschiedenen Gesellschaften schauen. In der Zeit zwischen 1976 und 1990 kamen hier sehr viele Menschen mit unterschiedlichsten Biografien und politischen Einstellungen zusammen – von Oppositionellen bis zur Funktionselite der DDR, von DDR-Bürger*innen bis zu Besucher*innen und Künstler*innen aus aller Welt. Dadurch können die Interviews Erzählungen generieren, die das Bild einer DDR-Gesellschaft jenseits der Vorstellung einer geschlossenen, homogenen Gesellschaft und der Täter-Opfer-Dichotomie zeichnen. Nach 1990 ist der Palast der Republik vor allem Symbol für die Transformationsgesellschaft. Da Erinnerungen kein direkter Zugriff auf die Vergangenheit sind, sondern im Akt des Erzählens geschaffen werden, sind sie immer Ausdruck unserer Gegenwart und spiegeln uns, wo wir heute als Gesellschaft stehen – mehr als 30 Jahre nach der Einheit.

Wer spricht mit wem?

Seit 2017 führt die Stiftung Humboldt Forum Videointerviews zur Geschichte des Ortes durch. Beauftragt ist die Filmemacherin Julia M. Novak, die Anfang der 2000er Jahre zusammen mit Thomas Beutelschmidt den Dokumentarfilm sowie das gleichnamige Buch »Ein Palast und seine Republik« veröffentlichten. Julia M. Novak und ihr Filmteam haben bis dato 29 Interviews in sieben Staffeln umgesetzt. Unter den Interviewten sind sogenannte Erbauer wie Frank Arndt, Wolf R. Eisentraut und Brigitte Fahlisch, Künstler*innen wie Vera Oelschlegel, Gertraude Pohl und Pierre Sanoussi-Bliss, Mitglieder der Volkskammer wie Sabine Bergmann-Pohl, Jens Reich und Wolfgang Thierse sowie die Initiator*innen der »Zwischen.Palast.Nutzung« Amelie Deuflhard und Philipp Oswalt. Einen Eindruck von den Aufnahmen gibt die Soundcollage »Stimmen zum Palast der Republik«.

© graphicrecording.cool (Johanna Benz, Tiziana Beck) / Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss

Das Projekt »Erinnerungsarbeit im Humboldt Forum« (2021-2024) (2) erweitert die bisherige Arbeit um das Format Audiointerview, das einen gewissen geschützten Rahmen und mehr Flexibilität bietet, da der technische Aufwand sehr viel geringer ist und das Setting auf die Bedürfnisse der Gesprächspartner*innen leichter angepasst werden kann. Ein Team von vier Interviewer*innen führte von März 2022 bis Juni 2023 Gespräche und Interviews mit rund 50 Personen. Dieses Team ist interdisziplinär aufgestellt, vereint Perspektiven aus Ost und West, Stadt und Land, ist weiblich und männlich und unterschiedlichen Alters. Sie bringen ihre subjektiven Perspektiven und persönlichen Netzwerke in die Arbeit ein. Methodisch gehen wir vom Konzept der »Erzählgemeinschaften« aus, demzufolge Befragte und Fragende gemeinsam eine Erzählung schaffen. Die Interviewer*innen, das Setting, die Fragen, die Art der Aufnahme etc. prägen das Interview und den Prozess des Erinnerns.

© graphicrecording.cool (Johanna Benz, Tiziana Beck) / Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss

Über Sammlungsaufrufe, Bekannte von Bekannten und Recherche entstanden und entstehen immer noch vielzählige Kontakte zu Gesprächspartner*innen. Unsere Recherchen fokussieren vor allem Perspektiven von Menschen, die sich nicht von sich aus bei uns melden – Menschen, die ihre Geschichte nicht als erzählenswert empfinden oder Personen, sie sich von unserem Projekt nicht direkt angesprochen fühlen.

Ziel ist es, eine möglichst große Vielfalt an Perspektiven und Diversität zu erreichen. Bislang ungehörte oder wenig gehörte Personengruppen stehen bei uns besonders im Fokus: Dazu gehören ehemalige Angestellte des Palastes der Republik ebenso wie ehemalige Vertragsarbeiter*innen, ausländische Studierende in der DDR, Ostdeutsche of Colour oder Angehörige der sogenannten Dritten Generation Ost. Nicht alle möchten ihre Geschichten aufzeichnen lassen und mit einer Öffentlichkeit teilen. Daher führen wir oft einfach nur Gespräche.

Erinnerungsarbeit ist ein sozialer Prozess, in den beide Seiten sich begeben und der kein konkretes Ende hat. Unsere Programmarbeit wie auch die geplante Ausstellung wird weitere Erinnerungen hervorbringen und festhalten. Erinnerungsarbeit bedeutet, Emotionen zuzulassen, Vertrauen aufzubauen, Verantwortung zu übernehmen. Nach mehreren Jahren des Kontakteknüpfens und Beziehungsaufbaus stellen wir fest, dass viele Menschen es schätzen, dass wir uns Zeit für Gespräche und Interviews nehmen, dass wir ihre Lebensgeschichten als wichtig erachten, ihnen Gehör verschaffen und vor allem – dass wir zuhören. Für einige Menschen ist das Humboldt Forum dadurch relevant geworden. Die vielen Gespräche und Interviews haben aber auch unsere Perspektive auf das Thema sehr verändert, unseren Blick geweitet und fließen so immer in unsere Programm- und Ausstellungsarbeit ein.

Anke Schnabel ist Teil des Programmteams »Der Palast der Republik ist Gegenwart«. Geboren und aufgewachsen in West-Berlin ist sie als Historikerin und Kuratorin seit über 20 Jahren für Museen und Gedenkstätten tätig. Seit 2015 arbeitet sie für die Stiftung Humboldt Forum, aktuell im Team an der Sonderausstellung zum Palast der Republik mit dem Schwerpunkt Erinnerungsarbeit.

1 Oral History ist eine Methode der Geschichtswissenschaft, bei der Zeitzeug*innen nach ihren subjektiven Erinnerungen an Erlebnisse und historische Ereignisse befragt und von den Interviewenden möglichst wenig beeinflusst werden. Die verschriftlichten Interviews dienen den Forschenden als Quelle. Es geht in der Oral History weniger darum zu erfahren, wie ein historisches Ereignis gewesen ist, sondern wie es von den Menschen erlebt wurde. Es geht um subjektive Einsichten und subjektive Wahrheiten. (nach oben ↑)

2 Das übergreifende Projekt »Erinnerungsarbeit im Humboldt Forum« ist angesiedelt in der Akademie der Stiftung Humboldt Forum, die in ihrer Programmabteilung für Bildung, Vermittlung und Wissenschaft mit dem Bereich Geschichte des Ortes eng zusammenarbeitet. (nach oben ↑)

divider
divider