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Erinnern, Erzählen, Wissen? Erzählgemeinschaften in der Wissenspraxis

von Christiane Kuller 09.06.2023, 21 Min. Lesezeit

Ein Vortrag zum Fachtag »Erinnern, Erzählen, Wissen«

Zeichnung von graphicrecording.cool, die den Fachtag begleiteten und live Skizzen und Zeichnungen erstellten, mit denen sie die Gesprächsinhalte visuell auf den Punkt brachten.
© graphicrecording.cool (Johanna Benz, Tiziana Beck) / Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss
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Erinnern, Erzählen, Wissen? Diese Reihung beschreibt die Grundfragen, mit denen sich das Projekt »Erinnerungsarbeit im Humboldt Forum« auseinandersetzt: Wie ist das Verhältnis von Erinnern und Wissen, wie verändert der Akt des Erzählens die Erinnerung und wie gewinnen wir Wissen aus Erzähltem? Am 6. Oktober 2022 trafen sich verschiedene Wissenschaftler*innen unter dem Titel »Erinnerung, Erzählen, Wissen?« zu einem Fachtag, um über diese Fragen gemeinsam nachzudenken. Veranstalterin war die Akademie, die als Programmabteilung des Humboldt Forums Angebote der Kulturellen Bildung entwickelt, um programmatisch Wissenschaft und Forschung mit der interessierten Öffentlichkeit zusammenzubringen. Die Fachtage bieten regelmäßig einen intensiven Austausch zu aktuellen Forschungsthemen sowohl für Fachkolleg*innen, als auch für interessierte Besucher*innen. Die Akademie verantwortet u.a. das Projekt »Erinnerungsarbeit im Humboldt Forum«, in dem zahlreiche Interviews rund um den Palast der Republik entstehen und arbeitet hierfür eng mit dem Bereich »Geschichte des Ortes« zusammen.

Christiane Kuller, Professorin für Neuere und Zeitgeschichte und Geschichtsdidaktik der Universität Erfurt, machte mit ihrem Einstiegs-Vortrag, den wir hier leicht verändert veröffentlichen, den Auftakt am 6. Oktober. Sie erläutert das mitunter schwierige und sehr komplexe Verhältnis, das in einem Interview zwischen dem oder der Fragenden und dem oder der Erzählenden entsteht. Wie kann Wissenschaft auf die Erwartungen und Ansprüche der Interviewten eingehen und reagieren? Wie kann ein respektvolles und offenes Gespräch gelingen? Und wie lassen sich die Autonomieansprüche beider Seiten miteinander in Einklang bringen? Fragen, mit denen auch wir uns auseinandersetzen und die Einfluss auf unsere Interviews nehmen, die wir zum Thema Palast der Republik führen.

© graphicrecording.cool (Johanna Benz, Tiziana Beck) / Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss

Erinnern, Erzählen, Wissen? Erzählgemeinschaften in der Wissenspraxis (1)

Menschen erinnern sich, und wenn sie diese Erinnerungen teilen, wenn sie sich gegenseitig davon erzählen, entsteht daraus neues gemeinsames Wissen. Das ist einerseits wichtig, um Erinnerungen zu bewahren, die sonst verloren wären, andererseits um sich untereinander über die Erinnerungen zu vergewissern und daraus Identitäten zu entwickeln. Sie sind auch wichtig, um den Wissenshorizont derer zu erweitern, die keine eigene Erinnerung an die jeweilige Erfahrung haben. Und es gilt auch: das, worüber gesprochen wird, verändert sich mit jedem Schritt: von der Erinnerung zum Erzählen und vom Erzählen zum Wissen. Es finden Transformationen statt, die von denjenigen, die an diesem Prozess beteiligt sind, ganz wesentlich beeinflusst und geprägt werden. In welcher Konstellation und unter welchen Bedingungen ein Gespräch stattfindet, das ist wesentlich dafür verantwortlich, wie das Wissen aussieht, das am Ende entsteht. Und diese Konstellationen sind nicht selten von Machtausübung gekennzeichnet, die mitunter von brutaler Gewalt sein kann.

Methodenfragen

Ausgangspunkt für den Fachtag war die Überlegung, dass wir sehr unterschiedliche Arten von Gesprächen über Erinnerungen zusammenbringen wollten, um durch den Austausch vielleicht neue Aspekte für die verschiedenen Debatten unterschiedlicher Fächer zu gewinnen. Es ging dabei auf der einen Seite um ethnologische Forschungen. Es war naheliegend, das hier am Humboldt Forum zu thematisieren, wo vor wenigen Tagen der letzte Teil des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst eröffnet worden war. (2) Auf der anderen Seite ging es um die Erinnerungskonflikte im Umgang mit der jüngeren deutschen Geschichte. Anlässlich des 32. Tages der Deutschen Einheit haben wir darüber vor Kurzem wieder viel in den Feuilletons gelesen. Meine Gedanken sind daher auch geprägt vom Nachdenken über Schnittstellen zwischen Zeitgeschichte und Ethnologie. In einem der Fächer bin ich selbst tätig (Zeitgeschichte), dem anderen entnehme ich kritische Impulse (Ethnologie).

Die Verbindung zwischen Zeitgeschichte und Ethnologie ist eng. In den 1980er Jahren waren deutsche Historikerinnen und Historiker, die sich für Erfahrungsgeschichte interessierten, fasziniert von ethnologischen Methoden. Lutz Niethammer, einer der Gründungsväter der deutschen Oral History, schrieb rückblickend ganz explizit, es sei damals das Ziel gewesen, ethnologische Methoden in die Geschichtswissenschaft zu übernehmen. (3) Die Geschichtswissenschaftler*innen suchten nach Methoden, um auch solche Teile der Vergangenheit zu bewahren, für die es keine schriftlichen Zeugnisse gab, die nur über Gespräche zu erkunden waren. Sie griffen damit einen internationalen Trend auf, der unter anderem darauf zielte, dass die bisher nicht gehörten Geschichten, d.h. Geschichten von marginalisierten Gruppen, die nur in mündlichen Erzählungen überliefert waren, einen Platz im Geschichtsbild erhalten sollten. Dazu musste man mit den Menschen über ihre Erinnerungen sprechen, und dafür schien die Ethnologie die geeigneten Methoden bereitzustellen.

© graphicrecording.cool (Johanna Benz, Tiziana Beck) / Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss

Ziel der entstehenden Oral History war es also, individuelle Erinnerungen als wichtige Quelle zur Rekonstruktion der Vergangenheit freizulegen und zu dokumentieren. Natürlich waren sich die Historiker*innen im Klaren, dass man in einem Interview keine Zeitreise unternehmen kann. Mit dem Erzählen von Erinnerungen wird kein Fenster zur Vergangenheit aufgestoßen, sondern man bekommt immer nur eine Aussage über die Erinnerung zum Zeitpunkt des Interviews, also in der Gegenwart. Hier kommen dann Gedächtnistheorien ins Spiel. So entwickelte das Team um Lutz Niethammer, Alexander von Plato und Dorothee Wierling in den 1980er Jahren ein Verfahren, um verschiedene Gedächtnisschichten freizulegen, (4) nicht nur die, derer sich die Interviewpartner*innen von Anfang an bewusst sind, sondern auch solche, die zunächst verborgen sind oder für unwichtig erachtet werden. Die Forscher*innen gehen davon aus, dass in den Erinnerungen von Menschen nicht nur eine Gedächtnisschicht vorhanden ist, sondern mehrere, auf die unterschiedlich zugegriffen werden kann. Das Team der Oral Historians, in deren Tradition auch wir arbeiten, hat hier den Begriff der »Gedächtnisspur« eingeführt, und historische Interviews zielen nicht zuletzt darauf, »Spurwechsel« zwischen verschiedenen Gedächtnisspuren herbeizuführen.

Warum erzähle ich das? Weil es bedeutet, dass ich als Historikerin nicht nur zuhöre und versuche, im Interview möglichst »unsichtbar« zu sein, (5) sondern es um eine gemeinsame »Herstellung« von Quellen geht und um die Interaktion zwischen Interviewer*in und Interviewten als wesentlichen Teil dieses Forschungsprozesses. Der oder die Interviewer*in soll nicht verschwinden, was er oder sie ja auch gar nicht könnte. Stattdessen soll eine spezifische, methodisch kontrollierte Interaktion zwischen den Gesprächspartner*innen unterschiedliche Erinnerungsprozesse in Gang setzen. Die Interaktion ist also nicht ein unerwünschter Nebeneffekt, der möglichst reduziert werden soll, sondern konstitutiver Teil des Erkenntnisprozesses.
Damit gewinnen die Historiker*innen aber auch eine machtvolle Position. Die interviewte Person ist zwar weiterhin Autorin ihrer Lebensgeschichte, sie ist aber beim Erzählen nicht mehr autonom. Denn die Vorstellungen der Historiker*innen bestimmen wesentlich, wann, wie und in welchem Ausmaß die »Gedächtnisspuren« angesteuert werden. Die Wissenschaftler*innen sind also nicht nur einfache Gesprächspartner*innen in einem Dialog, sie hören nicht nur zu, sondern steuern den Erkenntnisprozess in dem Gespräch.

Hinzu kommt: In der Regel sind auch sie es, die die Ergebnisse aufschreiben. Dieses Aufzeichnen ist ebenfalls ein machtvoller Prozess, nicht nur, weil derjenige, der aufschreibt, bestimmt, was aufgeschrieben wird und was nicht. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schreiben ihre Erkenntnisse in der Regel auch in ein Forschungsfeld ein, und das ist von bestehenden Forschungstraditionen durchzogen, die nur sehr schwer aufgebrochen werden können. Die Ergebnisse werden in einen laufenden Forschungsdiskurs eingeordnet und in der Regel wird damit der bestehende Trend fortgeschrieben. (6)

© graphicrecording.cool (Johanna Benz, Tiziana Beck) / Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss

In der Oral History-Arbeit in unserem Projekt zur Erfahrungsgeschichte der DDR und Transformationszeit (7) erleben wir heftigen Widerstand gegen die gerade angesprochene Methode. Menschen wollen uns ihre Lebensgeschichte erzählen, aber sie wollen es nicht in einem von Wissenschaftler*innen geleiteten Gespräch tun. Sie wollen selbst kontrollieren, was sie erzählen und wie sie es tun. Häufig kommen sie mit einem festen Plan, welche Geschichte sie erzählen wollen. Und häufig steht dahinter die Agenda, das dominante Narrativ, das sie aus Museen und Gedenkstätten, aber auch aus Politikerreden und Schulbüchern kennen, aufzubrechen und eine »ganz andere« Geschichte erzählen zu wollen. Und das führt zum nächsten Punkt: Viele Menschen wollen nicht, dass ihre Lebensgeschichte in den laufenden Forschungsdiskurs einfach nur eingeschrieben wird. Sie wollen die Kontrolle darüber, welche Teile ihrer Geschichte erzählt werden und welche nicht, und vor allem sind sie nicht bereit, die Entscheidung, wie die Geschichte erzählt wird, an die Historikerin abzugeben. Es wird Partizipation in allen Schritten des Prozesses vom Erzählen der Erinnerung über die Aufzeichnung bis zur Formulierung von daraus resultierenden Wissensbeständen eingefordert.

Darauf einzugehen ist für Historiker*innen eine Herausforderung. Nicht etwa, weil wir diese Partizipationsansprüche nicht anerkennen könnten. Der US-amerikanische Historiker Michael Frisch hat bereits in den 1990er Jahren darauf hingewiesen, dass die geschichtswissenschaftliche Arbeit mit Oral History-Interviews zu einer breiteren gesellschaftlichen Partizipation in öffentlichen Geschichtsdebatten führen kann und sollte. (8) Dem kann ich mich nur anschließen.

© graphicrecording.cool (Johanna Benz, Tiziana Beck) / Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss

Es geht mir um etwas anderes: Durch die Zurückstellung wissenschaftlicher Deutungskriterien gegenüber der individuellen Bewertung von Erinnerungen können Funktionen von Wissenschaft, die aus ihrer Autonomie erwachsen, gefährdet werden: (9) Wissenschaft könnte dadurch etwa ihre (gesellschafts-)kritische Funktion verlieren. Auch in der Erinnerungskultur hat Wissenschaft Ressourcenfunktionen und Korrekturaufgaben, die nur dann produktiv erhalten werden können, wenn Wissenschaft autonom agiert. (10) Das kann letztlich auch bedeuten, dass wissenschaftliche Kriterien möglicherweise den Erzählinteressen der Interviewpartner*innen entgegenstehen.

Mehr als erzählen und zuhören: Rollen und Beziehungen zwischen Gesprächspartner*innen

Im zeithistorischen Interview kommen Menschen zusammen, die unterschiedliche Interessen und Projekte haben. Alle Beteiligten, ob der interviewte Zeitgenosse oder die interviewende Wissenschaftlerin, bringen eigene Haltungen und eine eigene Erfahrungsgeschichte mit. Jede*r von ihnen hat Erwartungen und Intentionen, die er oder sie mit dem Interview verbindet. Wir haben in der Forschungsstelle zur »ostdeutschen Erfahrung« vielfach beobachtet, dass es einen großen Unterschied macht, ob die Person, die das Interview führt, als »Ossi« oder als »Wessi« gilt (hier gibt es übrigens nicht selten falsche Annahmen), welcher Generation sie angehört, und auch ob sie Frau oder Mann ist – um nur die oberflächlichsten Kennzeichen zu erwähnen. Ebenso spielen die Erwartungen und Zuschreibungen der Wissenschaftler*innen an ihre Interviewpartner*innen eine wichtige Rolle dafür, wie das Gespräch verläuft.

Wenn man sich diese Rahmenbedingungen vor Augen führt, dann ist klar, dass ein solches Interview alles andere ist als eine neutrale Beobachtungssituation, in der Wissenschaftler*innen Erzählungen sammeln und in Wissen überführen. Es ist eine gewaltige Karambolage auf emotionaler und kultureller Ebene, ein Zusammenstoß zwischen aufgeregten Erwartungen und hochgesteckten Vorhaben, jede*r der Gesprächspartner*innen ist darauf bedacht, das Gegenüber zu sondieren und gleichzeitig seine oder ihre eigene Agenda nicht aus den Augen zu verlieren.

Und das Gespräch wird beide auch nicht unverändert entlassen: Interviewpartner*innen und Interviewer*innen werden hinterher neu auf das Gesprochene und Gehörte, aber auch auf sich selbst, die eigene Rolle blicken – ein Prozess, der auch nicht mehr rückgängig gemacht werden kann.

Ich will es, inspiriert von der Ethnologin Heike Behrend, noch einmal etwas anders wenden: Schon im Erkenntnisinteresse, den oder die andere*n kennenlernen zu wollen, steckt eine Alteritätskonstruktion, also eine Vorstellung von der Andersartigkeit unseres Gegenübers, die uns nicht selten auf eine falsche Fährte lockt. Auch steht dahinter oft ein paternalistischer, d.h. bevormundender Ansatz, also die Vorstellung, dass die Wissenschaftlerin den Interviewpartner »lesen« und »interpretieren« kann. Nicht nur führt diese Annahme häufig in die Irre, sie gilt auch für beide Seiten: Nicht nur die Wissenschaftlerin interpretiert den Interviewpartner, auch der Interviewpartner »liest« die Wissenschaftlerin. Diese Art von »inverser Ethnografie« (11) und die damit verbundenen gegenseitig-verflochtenen Alteritätsannahmen müssen ebenfalls in die Interpretation dessen einbezogen werden, was in so einem Interview aufgezeichnet wird.

Schließlich: Die wissenschaftlich aufbereiteten neuen Wissensbestände werden zu den Interviewpartner*innen zurückkehren. Diese werden sie rezipieren, sie werden sie kritisieren, sich möglicherweise rächen wollen, sie werden sie umschreiben oder auch weiterschreiben. Die Historiker*innen Kerstin Brückweh, Clemens Villinger und Kathrin Zöllner haben dies zum Baustein ihres Projektes gemacht: Sie sind mit den Ergebnissen ihrer Interview-Forschungen (über die »Lange Geschichte der Wende«) auf eine Dialogreise gegangen und sie haben dokumentiert, was passiert, wenn das Gespräch weitergeht, über die Publikation der wissenschaftlichen Ergebnisse hinaus. (12)

Ich will nun am Ende noch eine kritische Frage aufwerfen. Sie lautet: Welche Geschichten wollen wir hören, welche nicht und wer entscheidet darüber, was wir zu hören bekommen? Lange Zeit haben Historiker*innen ganz alleine darüber entschieden, welche Geschichten sie abfragten und welche nicht, welche Geschichten in ihre Forschungsagenda »passten« und welche nicht. Vielfach haben hier koloniale, rassistische und menschenverachtende Kriterien eine Rolle gespielt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gab es in Deutschland jedoch eine spezifische Situation: Nun war Oral History verpönt, weil man den Erinnerungen der Mitglieder einer postfaschistischen Gesellschaft, die in weiten Teilen eine Täter*innengemeinschaft war, keine öffentliche Plattform geben wollte. Nicht zuletzt aus diesem Grund hat die Oral History in Deutschland erst relativ spät Fuß gefasst. Das erste Großprojekt von Lutz Niethammer und seinem Forschungsteam befasste sich erst in den 1980er Jahren unter streng kontrollierten Bedingungen mit der NS-Erinnerung von Arbeiter*innen im Ruhrgebiet. (13)

© graphicrecording.cool (Johanna Benz, Tiziana Beck) / Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss

In unseren aktuellen Forschungen zur Erinnerung an DDR und Transformationszeit stellt sich auch für uns die Frage: Welche Geschichten wollen wir aufnehmen und interpretieren? Was wir sehen, ist: Es melden sich vor allem diejenigen, die eloquent, selbstbewusst und »wissenschaftsaffin« sind, die davon ausgehen, dass ihre Geschichte wichtig ist und dass sie sie auch gut erzählen können. Es melden sich nicht diejenigen, die weniger sprechfähig sind und die keinen Zugang zum System »Wissenschaft« sehen. Das verweist darauf, dass das Erzählen und Zuhören in gesellschaftliche Rahmenbedingungen eingebunden sind, in denen es vielen Menschen kaum möglich ist, sich selbst zu ermächtigen und die Forderung nach Partizipation zu formulieren. Und hier sehe ich ein gewisses Paradox: Denn es sind häufig wieder die Wissenschaftler*innen, die auf die Interviewpartner*innen zugehen, sie auffordern und in die Position bringen, ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Ist das nicht am Ende auch wieder ein paternalistisches Vorgehen, also eine Art Bevormundung?

Alle Bilder: Graphic Recording Zeichnungen, die während des Fachtages »Erinnerung, Erzählen, Wissen?« am 6. Oktober 2022 im Humboldt Forum entstanden sind. © graphicrecording.cool (Johanna Benz, Tiziana Beck) / Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss

Dr. Christiane Kuller ist Professorin für Neuere und Zeitgeschichte sowie für Geschichtsdidaktik an der Universität in Erfurt. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen die Alltagsgeschichte der DDR und der Transformationszeit sowie die Geschichte von Erinnerungskulturen.

(1) Die folgenden Überlegungen sind das Ergebnis vielfältigen Austausches mit Kolleginnen und Kollegen, unter anderem mit Agnès Arp, der Leiterin der bundesweit ersten Forschungsstelle für »ostdeutsche Erinnerung«, mit Patrice Poutrus, Gastprofessor für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung an der TU Berlin, Florian Wagner und Christiane Bürger, die vor Kurzem eine Forschungsstelle für koloniales Erbe in Thüringen ins Leben gerufen haben und mit Sophie Kühnlenz, die sich in ihren Forschungen mit musealen Darstellungsformen beschäftigt. (nach oben ↑)

(2) Am 17. September 2022 eröffneten für das Publikum im Ostflügel des Humboldt Forums die neuen Sammlungspräsentationen des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst der Staatlichen Museen zu Berlin sowie fünf temporäre Ausstellungen der Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss in Zusammenarbeit mit den Museen, vgl. https://www.humboldtforum.org/de/presse/dossiers/eroeffnung-ostfluegel/ (nach oben ↑)

(3) Niethammer, Lutz: Oral History in der deutschen Zeitgeschichte. Lutz Niethammer im Gespräch mit Veronika Settele und Paul Nolte, in: Geschichte und Gesellschaft, 43 (2017) 1, S. 110–145, hier: S. 121. (nach oben ↑)

(4) Wierling, Dorothee: Oral History, in: Michael Maurer (Hrsg.): Aufriss der Historischen Wissenschaften, Bd. 7: Neue Themen und Methoden der Geschichtswissenschaft, Stuttgart 2003, S. 81–151. (nach oben ↑)

(5) Schütze, Fritz: Biografieforschung und Narrative Interviews, in: Neue Praxis, 13 (1983), S. 283–293, S. 121; Niethammer, Lutz: Oral History in der deutschen Zeitgeschichte. Lutz Niethammer im Gespräch mit Veronika Settele und Paul Nolte, in: Geschichte und Gesellschaft, 43 (2017) 1, S. 110–145, hier: S. 121. (nach oben ↑)

(6) Behrend, Heike: Menschwerdung eines Affen. Eine Autobiografie der ethnografischen Forschung, Berlin 2020, S. 17f. (nach oben ↑)

(7) Informationen zum Oral History-Projekt im Forschungsverbund »Diktaturerfahrung und Transformation« (2019–2022): https://verbund-dut.de/teilprojekte/familienerinnerung/ und https://www.uni-erfurt.de/philosophische-fakultaet/seminare-professuren/historisches-seminar/professuren/neuere-und-zeitgeschichte-und-geschichtsdidaktik/oral-history-forschungsstelle(nach oben ↑)

(8) Frisch, Michael: A Shared Authority. Essays on the Craft and Meaning of Oral and Public History, Albany 1990. (nach oben ↑)

(9) Vgl. dazu aus sozialwissenschaftlicher Sicht von Unger, Hella von: Partizipative Forschung. Einführung in die Forschungspraxis, Wiesbaden 2014, S. 9. (nach oben ↑)

(10) Vgl. hierzu Sabrow, Martin: Die Lust an der Vergangenheit. Kommentar zu Aleida Assmann, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, 4 (2007) 3, https://zeithistorische-forschungen.de/3-2007/4667, Druckausgabe: S. 386–392. (nach oben ↑)

(11) Behrend, Heike: Menschwerdung eines Affen. Eine Autobiografie der ethnografischen Forschung, Berlin 2020, S. 13. (nach oben ↑)

(12) Brückweh, Kerstin/Villinger, Clemens/Zöller, Kathrin (Hrsg.): Die lange Geschichte der »Wende«. Geschichtswissenschaft im Dialog, Berlin 2020. (nach oben ↑)

(13) Das erste und wohl immer noch umfangreichste Oral History-Projekt in der Bundesrepublik Deutschland war das zu Beginn der 1980er Jahre durchgeführte Projekt »Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930–1960« (LUSIR), in dem es um Faschismuserfahrungen sowie deren Verarbeitung und Bedeutung als Vorgeschichte der Nachkriegszeit ging. Einschließlich des Nachfolgeprojektes »Einsetzung und Einpassung neuer Eliten in NRW nach 1945« wurden vierhundert lebensgeschichtliche Interviews mit Personen aus der Wirtschaft, dem Mittelstand und der Arbeiterschaft des Ruhrgebietes geführt. Informationen zum Projekt und dessen Publikationen: https://www.fernuni-hagen.de/geschichteundbiographie/forschung/projekte/lebensgeschichte.shtml (nach oben ↑)

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