divider

Klogestank und Klubarbeit

von Matthias Schwartz 28.09.2023, 17 Min. Lesezeit

Zum Versprechen und Nachleben sozialistischer Kulturpaläste

Innenansicht eines Kulturpalastes in der russischen Provinz, Oblast Twer, 2018
© Maksim Maiorov
0

In Frühjahr 2023 gingen wir auf Matthias Schwartz zu und konnten ihn von unserer Idee begeistern: die Realisierung eines internationalen Schreibprojekts rund um das Thema Kulturpaläste, das wir »Palastgeschichten« nennen.
Matthias Schwartz, Slawist und Historiker, forscht zu osteuropäischen Gegenwartsliteraturen und Populärkulturen am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL) in Berlin. Er sagte zu, schärfte mit uns die Konzeption und begleitete die Suche nach Autor*innen für das Projekt. Im Sommer dieses Jahres entstanden im Tandem insgesamt fünf Texte, die wir am 7. und 8. Oktober 2023 präsentieren. Moderieren wird die Veranstaltung »Palastgeschichten« im Humboldt Forum ebenfalls Matthias Schwartz. Als Teil des großen Veranstaltungswochenendes »POST/SOZIALISTISCHE PALÄSTE. BUCURESTI, КИЇВ, PRAHA, СОФИЯ, WARSZAWA« mit Konzerten, Gesprächen und Filmen werden die Autor*innen aus ihren »Palastgeschichten« lesen und im Gespräch mit Matthias Schwartz von ihren Schreiberlebnissen berichten.

Wir haben Matthias Schwartz im Vorfeld gebeten, seine Gedanken zum Thema sozialistische Kulturpaläste mit uns zu teilen.

Sturm auf den Petersburger Winterpalast 1917, Nachstellung von 1920
© Wikimedia Commons, Public domain

Kulturpaläste sind das gebaute Versprechen, die Welt besser zu machen, und zwar für alle. »Friede den Hütten, Krieg den Palästen!« lautet die berühmte Parole von Georg Büchner, und die Oktoberrevolution machte 1917 ernst damit und stürmte die Gemächer und Schlösser der Aristokraten, Großgrundbesitzer, Generäle, Popen und Kapitalisten. Der Sturm auf den Petersburger Winterpalast, Sitz der Zaren, wurde später zum ikonischen Bild des Umsturzes. (1) Die Bolschewiki verwandelten die Zarenschlösser in öffentliche Museen, die Kirchen in Volkstheater, Schwimmbäder oder Kinosäle und aus den Palais der Reichen und Privilegierten wurden Pionier- und Hochzeitspaläste für die Werktätigen. »Kulturpaläste« für die Arbeiter, Bauern und Soldaten folgten erst später, zunächst fing man bescheidener an und gründete massenweise »Kulturklubs« und »Kulturhäuser«.

Denn die Revolution sollte nicht nur eine Verteilung des Wohlstands von oben nach unten bringen, sondern auch eine Erziehung des Volkes hin zu Klassenbewusstsein und höchster Bildung. Um einst in kommunistischer Zukunft selber in Palästen ein prächtiges Leben nach den eigenen Bedürfnissen und Fähigkeiten führen zu können, musste das Proletariat erst einmal umfassend kultiviert werden. Da die meisten der Werktätigen aber 1917 noch nicht einmal lesen oder schreiben konnten, für Schule und Universität aber schon zu alt waren, schuf man im ganzen Land sogenannte Kulturhäuser oder Kulturklubs, wo sie nach getaner Arbeit all die Allgemeinbildung und das Spezialwissen nachholen sollten, die sie bislang versäumt hatten. Nach Lenin bestand die Notwendigkeit, »den Klub zu einer der wichtigsten Stätten für die Bildung der Arbeiter zu machen«, und der erste Volkskommissar für Bildung, Anatolij Lunatscharski, stellte 1927 fest: »Die Klubarbeit ist von enormer Bedeutung. Der Klub soll ein Stück Sozialismus sein, ein Ort der Bildung und der Erholung sowie der Verbreitung der Grundprinzipien der neuen sozialistischen Lebensauffassung und des sozialistischen Aufbaus«. (2)

Der Kulturpalast »Maxim-Gorki« in Sankt Petersburg, 2021
© Alamy Stock Photo / ruelleruelle

Und so geschah es. Bereits 1922 zählte man in der Sowjetunion über 12.000 Kulturklubs und -häuser, 1940 waren es dann schon 118.000 im ganzen Land, nach dem Zweiten Weltkrieg stieg die Anzahl nur noch langsamer bis ungefähr 135.000 im Jahr 1975. Dass diese Orte sozialistischer Bildung anfangs nicht »Paläste« hießen, war naheliegend, verband man doch mit solchen Herrenhäusern eher Luxus und Dekadenz, nicht aber das Pauken von Grundwissen und Dialektischem Materialismus. Erst als die Alphabetisierung der Proletarier erhebliche Fortschritte gemacht hatte, tauchten auch die ersten Kulturpaläste auf – den Anfang machte das zum zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution 1927 eröffnete Leningrader »Kulturhaus des Moskau-Narva-Bezirks«, das 1929 unter Anwesenheit des Schriftstellers in einem Festakt in »Maxim-Gorki-Kulturpalast« umbenannt wurde. Bei dem Palast handelte es sich um einen beeindruckenden modernistischen Neubau im Stil des Konstruktivismus, der neben einem 2.200 Personen fassenden Zuschauersaal auch eine Bibliothek, einen kleinen Konzertsaal, ein Kinotheater, eine Sporthalle sowie mehrere kleinere Unterrichts- und Veranstaltungsräume besitzt.

Metro-Station »Komsomolskaja« in Moskau, 2018
© A.Savin, WikiCommons

Und so wie man nun überall in der Stalinzeit an den repräsentativen Orten des Landes statt Hütten Paläste für das Volk baute, angefangen mit den Moskauer Metrobahnhöfen deren Eingangshallen und Stationen wie Schlosssäle aussehen sollten, bis zu den Prachtbauten im ornamentalen Klassizismus, in denen verdiente Arbeiterhelden und Genossen ihr neues Domizil fanden, öffneten auch immer mehr neu errichtete Kulturpaläste ihre Pforten. Und da man sich nun bereits im sich entwickelnden Sozialismus wähnte, wandelte sich auch die Funktion dieser Einrichtungen allmählich. Es trat die gepflegte und politisch opportune Freizeitgestaltung in den Vordergrund, statt Agitation gab es häufiger Operette und Musicals, statt politischer Schulung leichte Unterhaltungsmusik und Kinokomödie, und anstelle der Weiterbildung widmeten sich die fortschrittlichen Sowjetbürgerinnen und -bürger lieber Tanz und Vergnügen. Diese Tendenz verstärkte sich in der Nachkriegszeit noch, wobei nun auch jene protzigen Neubauten in den Hauptstädten der Unionsrepubliken und der neu hinzu gekommenen sozialistischen ›Bruderstaaten‹ entstanden, die mit viel Marmor und Kristall, ihren Galakonzerten und Festveranstaltungen den sozialistischen Eliten vor allem zur Zurschaustellung ihrer Weltläufigkeit dienten. Den Anfang machte der noch von den Sowjets der Volksrepublik Polen ›geschenkte‹, 1955 eröffnete »Kultur- und Wissenschaftspalast« in Warschau, doch auch die entsprechenden modernistischen Repräsentationsbauten in Kyjiw, Sofia, Prag oder Ostberlin gehören in diese Kategorie.

Zeitgleich öffneten sich gerade die kleineren Kulturpaläste und -häuser seit den 1970er Jahren vermehrt auch alternativen Kultur- und Jugendszenen, rebellische Liedermacher und Rockbands hatten hier ihre ersten Auftritte, nonkonforme Dichter und nerdige SciFi-Fans genossen unter deren Dach relative Freiräume. Es war das goldene Zeitalter der Kulturpaläste, die nun tatsächlich zu allgemein genutzten Tempeln des Volkes wurden, wo vom Hippie bis zur Heimathistorikerin alle ihren Unterschlupf fanden.

Der »Kulturpalast der Charkiwer Elektromechanischen Fabrik«, Charkiw, 2010
© Georgij Nikolsky

Nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus war es damit schnell vorbei: der Kapitalismus zog ein, die einen versuchten sich als kommerzielle Veranstaltungszentren, andere setzten auf Spielautomaten, Videosalons und Schnäppchenbasare, doch die meisten gingen einfach bankrott. So blickt der Held aus Serhij Zhadans erstem Roman »Anarchy in the UKR« (2005) wehmütig auf die Zeit zurück, als Amateurbands noch die Bühne des »Kulturpalasts der Charkiwer Elektromechanischen Fabrik« unsicher machten:
»Und hier kam mir auf einmal der gute alte Kulturpalast in den Sinn, wie kann das sein, dachte ich, während der Sowjetzeit sind hier doch herrlich asoziale Sachen gelaufen, damals, in den fernen Zeiten, als die Megamaschine gerade die ersten Pannen hatte, der Punk endgültig und unwiderruflich siegte, kann doch nicht sein, daß die mich jetzt hier nicht reinlassen, sie müssen einfach, und sei es nur wegen unserer gemeinsamen Vergangenheit […], wie oft hatten mich die Wachleute des Saales verwiesen […], wie oft haben sie mich mit den Musikern von der Bühne geschmissen […]. Ich ging hinein – im Erdgeschoß war ein Möbelgeschäft, dann gab es noch eine Kneipe, irgendwelche Boutiquen und Geschäfte, um die Ecke befand sich ein schmuddeliger Secondhandshop. Nach Haschisch roch es nicht mehr, nur der Klogestank hielt sich, der Geist der Sowjetschüssel, der nicht mit dem Rock’n’Roll verschwunden war, hatte sich in die Wände, in den Secondhandshop gefressen. Ich drehte um und fuhr zurück.« (3)

Von Glanz und Gloria der sozialistischen Vergangenheit ist wenig geblieben, manche Gebäude wurden einfach abgerissen, andere durch Krieg zerstört. (4) Doch wie alle Prunkbauten haben Kulturpaläste auch eine romantische Seite, Haschisch und Punk eingeschlossen. Selbst wenn nur noch die Ruinen stehen, ihre Legenden und Geister leben weiter. Kein Palast ohne Schlossgespenst, keine Burg ohne Geheimgänge und dunkle Verliese, kein Prachtgebäude ohne Schauerromantik. Und es ist vor allem die Kunst, die Poesie, die Literatur, die diese unerhörten Palastgeschichten weiterverbreitet.

Der Warschauer Kulturpalast auf dem Cover einer Neuauflage von Tadeusz Konwickis Roman »Malá apokalypsa« [dt.: »Kleine Apokalypse«], 1979, Verlag: Niezależna Oficyna Wydawnicza NOWA

Der polnische Schriftsteller Tadeusz Konwicki wusste bereits 1967, dass Stalins Warschauer Kulturpalast eine »kleine Apokalypse« sei. Von der Gebäudespitze aus würden dämonisch-unheimliche Kräfte durch die zahlreichen Röhren und Gänge des Palastes strömen und sich bis in die umgebenden Metrolinien und Brunnenschächte ausbreiten. (5)

»Kulturpalast. Neue Moskauer Poesie & Aktionskunst« hieß eine Publikation aus dem Jahr 1984 über die inoffizielle Kulturszene Moskaus, die im S Press Tonbandverlag erschien.

Auch inoffizielle Künstler der Sowjetunion brachten der »Größe, Erhabenheit, Macht« der »steinernen Paläste des neuen Moskau« und »den Kitsch-Stereotypen der Massenkultur« eher »ein an Haßliebe grenzendes Interesse entgegen«. (6) Und so nennen die Herausgeber Günter Hirt und Sascha Wonders ihre Dokumentation neuer Moskauer Poesie und Aktionskunst 1984 folgerichtig auch »Kulturpalast«, denn: »Man spürt hier nichts mehr von asketischer Selbstbeschränkung angesichts des Reiz- und Sensationsmonopols des Kulturpalasts. Die Künstler wollen sich nicht mehr in Nischen oder gar vor die Tore des Palasts drängen lassen. Sie beschmieren seine Wände.« (7)

»Lieber Palast, keine Angst, die bauen Dich wieder auf« Graffiti an der Fassade des Palastes der Republik in Berlin während des Abrisses, 2006
© picture-alliance/ dpa/dpaweb | Bernd Settnik

Von solchen beschmierten Wänden und schauderhaft-schönen Legenden, interessierter Hassliebe und herrlich asozialen Sachen handeln auch die jeweils im Tandem geschriebenen Texte über die Kulturpaläste von Belgrad, Bukarest, Kyjiw, Ostberlin, Prag, Sofia und Warschau. Sie erzählen von dem unheimlichen Nachleben der sozialistischen Lebensauffassung, von den Geistern der Generalsekretäre, die noch immer durch deren Gemächer wandeln, sie folgen untergründigen Halbsätzen und Heroinkanälen, Banausen und den Bay City Rollers in unsichere Gefilde, sie spüren den Echoräumen und Spiegelkammern von Größenwahn und Hedonismus, Architekturutopie und Bombentrauma, Brutalismus und Zuckerbäckerei nach und lassen sich von den Sirenen leerstehender Betonkolosse verzaubern.

Dr. Matthias Schwartz ist stellvertretender Direktor und Leiter des Programmbereichs Weltliteratur am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL) in Berlin. Seine Forschungsinteressen umfassen osteuropäische Gegenwartsliteraturen, Erinnerungs- und Populärkulturen in einer globalisierten Welt; dokumentarische Ästhetik und sozialistische Reiseliteratur, die Kulturgeschichte der sowjetischen und postsowjetischen Abenteuerliteratur, Science Fiction, Wissenschaftspopularisierung und Raumfahrt.

(1) Vgl. Inke Arns, Igor Chubarov, Sylvia Sasse (Hg.): Nikolaj Evreinov: »Sturm auf den Winterpalast«, Zürich 2017. (nach oben ↑)

(2) Zwar tauchten im Zarenreich schon vor dem Ersten Weltkrieg im Rahmen der Volkstümler- und Arbeiterbewegung die ersten »Volksklubs« zur Weiterbildung auf, doch erst nach 1917 wurden sie zum politisch initiierten Massenphänomen, das in allen staatlichen und kooperativen Einrichtungen und Betrieben zu finden sein sollte. Siehe L. N. Tjupškov, P. P. Charlanov: Klubnye učreždenija, in: Bol’šaja Sovetskaja Ėnciklopedija, 3. Auflage, Bd. 12, Moskau 1973, http://bse.uaio.ru/BSE/1202.htm(nach oben ↑)

(3) Serhij Zhadan: Anarchy in the UKR (2005), Frankfurt am Mai 2007, S. 153. (nach oben ↑)

(4) Charkiws bekanntester Kulturpalast ist der »Kulturpalast der Eisenbahnarbeiter«, ein beeindruckender konstruktivistischer Bau aus den 1930er Jahren, der noch 2011–2012 renoviert worden ist, im März und Oktober 2022 aber durch russische Raketenangriffe schwer beschädigt wurde. (nach oben ↑)

(5) Tadeusz Konwicki: Auf der Spitze des Kulturpalastes (1967), München 1973. »Kleine Apokalypse« ist der polnische Originaltitel eines weiteren Romans (1979) von Konwicki, in dem der Warschauer Kulturpalast ebenfalls eine zentrale Rolle spielt, der in der deutschen Übersetzung den Titel »Die polnische Apokalypse« bekam. (nach oben ↑)

(6) Günter Hirt und Sascha Wonders (Hg.): Kulturpalast. Neue Moskauer Poesie & Aktionskunst, Wuppertal 1984, S. 8, 17. Hirt und Wonders sind Pseudonyme der Slawisten Georg Witte und Sabine Hänsgen. Einige der damals entstandenen Werke der Moskauer Konzeptkunst sind jüngst von den Herausgebern bei S-Press neu ediert worden, vgl. https://www.edition-s-press.com/about-s-press/(nach oben ↑)

(7) Ebd., S. 17. (nach oben ↑)

divider
divider