Der Warschauer Kulturpalast und die verwischten Spuren der jüdischen Geschichte
Erinnerungsspeicher zwischen horror vacui und storyscape
1955 erhob sich und herrschte der steile und gerade fertiggestellte Kulturpalast über den Ruinen der einst so stolzen Stadt. Seine Planung und Ausführung hatten in den Händen des russischen Architekten Lew Rudniew gelegen. Mit dem Bau des Palastes vollendete die Regierung die endgültige Dekomposition des Warschauer städtischen Raums. Seine Kilometer weit sichtbare Silhouette manifestierte den grundlegenden politischen und gesellschaftlichen Neuanfang im Stadtbild: Mit dem Kulturpalast sollte ein baulicher und erinnerungspolitischer Leerraum entstehen, der mit der alten Stadtstruktur brach und die Geschichte des Ortes neu definierte.
Kriegszerstörungen erleichterten die bauliche Beanspruchung der Zukunft. Seit September 1939 hatten deutsche Luftangriffe dieses Areal bombardiert. Nach der Niederschlagung des Warschauer Aufstands (1944) räumten eigens eingesetzte NS-Truppen die Häuser aus, um sie anschließend in Brand zu setzen. Man schätzt, dass 1945 circa sechzig Prozent der Bausubstanz auf dem heutigen Plac Defilad (Paradeplatz vor dem Kulturpalast) in Trümmern lag. Das Werk der Zerstörung wurde von den kommunistischen Machthabern vollendet. Mit dem Argument, die abgebrannten Häuser stellten eine Bedrohung für die Sicherheit dar und könnten nicht wiederaufgebaut werden, wurden zahlreiche intakte Gebäude abgerissen, darunter das Haus, in dem Janusz Korczak mit jüdischen Waisenkindern während der deutschen Besatzung seine letzte Heimat gefunden hatte. Für den Bau des Kulturpalastes wurden die rund fünfzig Hektar große Fläche fast leergeräumt, ganze Straßenzüge ausgelöscht.
Auch wenn hier einst keine Kirche und kein Schloss standen, wohnt dem 400 mal 500 Meter großen Platz um den Kulturpalast eine besondere Bedeutung inne: Er symbolisiert hunderte im Krieg und nach dem Krieg vernichtete Wohnhäuser und die zerstörten Leben derer, die darin lebten. Er symbolisiert ebenso den Untergang des polnischen Judentums. In keiner anderen europäischen Stadt lebten mehr Jüdinnen und Juden vor dem Krieg, sie stellten fast ein Drittel der Bevölkerung. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht hatten die Warschauer Jüdinnen und Juden in das insgesamt vier Quadratkilometer große Ghetto der Stadt umziehen müssen, von wo sie die deutschen Besatzer in die Vernichtungslager deportierten. Der Kulturpalast steht teilweise auf dem einstigen Gelände des Warschauer Ghettos, das nach dem niedergeschlagenen Aufstand (1943) von den Nationalsozialisten komplett zerstört wurde.
Was für die einen eine Leerstelle war, also das Symbol einer traumatischen Abwesenheit und eines unwiederbringlichen Verlusts, war für die kommunistischen Behörden ein Möglichkeitsraum für eine erinnerungspolitische Neuausrichtung unter Auslöschung der Auslöschung. Allerdings: „Die Geschichte wandert in den Schauplatz hinein.“ (Walter Benjamin). Der Kulturpalast, die zentrale Manifestation von Macht, entwickelte sich zu einem Gedächtnisort, der die Erinnerung an bestimmte Erlebnisse zu erhalten und über den Zeitraum von Generationen zu transportieren hilft. Dieser „Erinnerungsspeicher“ umfasst auch die Abwesenheit. Gerade seine architektonische Fremdartigkeit wirft die Frage nach dem Gewesenen auf und eröffnet die Auseinandersetzung mit der immateriellen Landschaft des Narrativen („storyscape“).
PD Dr. Agnieszka Pufelska ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Nordost-Institut an der Universität Hamburg (Lüneburg) und Privatdozentin an der Universität Potsdam. Die Kulturhistorikerin befasst sich mit der Geschichte der deutsch-polnischen Kulturverflechtungen und der modernen jüdischen Geschichte. Veröffentlichungen u.a. zu den Themen Antisemitismus, Geschichtsbilder und nationale Identitätskonstruktionen. Derzeit forscht sie zur Aneignung des preußischen Kulturerbes in polnischen Museen. Bis Mai 2023 war sie im Beratungsgremium „Sounding Board“ aktiv und begleitete in dieser Rolle das Programmteam auf seiner Reise nach Warschau, Bukarest, Sofia und Budapest im Dezember 2022.
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Ein sehr wichtiger Beitrag, der die Auseinandersetzung mit dem kommunistischen Erbe nicht auf die Semantik von Fremdheit reduziert. Dass das Jüdische des zerstörten Stadtraums vor dem Kulturpalast hervorgehoben wird, geschieht nicht häufig.
Trotz aller Verluste bleibt eine hoffnungsfrohe Note: Letztlich sind es die Bürger, die den Ort – auch gegen die Vorgaben – definieren und reflektieren. Und diese wissen um die verschiedenen Schichten der Erinnerung. Für die einen ein Fremdkörper, für die anderen eine Erinnerung an die Erinnerung, für die Dritten ein nützliches Gebäude. Wie die Autorin zeigt, eben keine geradlinige Geschichte.