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»Geschichten. Wie erzählen wir uns selbst?«

von Carolin Kaever 23.05.2023, 5 Min. Lesezeit

Von der Kraft des Erzählens. Eine Veranstaltung im Humboldt Forum fragt, wie aus Erfahrungen Erinnerungen werden und welche Rolle Geschichten spielen.

© Catherine Panebianco
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Ich war in der 9. oder 10. Klasse, das muss 1994 oder 1995 gewesen sein: unsere Lehrerin für das Fach »Lebenskunde, Ethik, Religion« kurz LER, das in Brandenburg für die Schüler*innen ab der 7. Klasse auf dem Lehrplan stand, machte mit uns einen Ausflug ins Jugendkulturzentrum. Dort sahen wir den Spielfilm »Jana und Jan« aus dem Jahr 1992.

Jan und Jana lernen sich in einem Jugendwerkhof kennen und werden dort zu einem Liebespaar. Die Jugendwerkhöfe waren eine Art Spezialheime in der DDR, in denen Jugendliche ab 14 Jahren, die als schwer erziehbar galten, untergebracht waren. Unter menschenverachtenden Lebensbedingungen und einem streng geregelten Alltag sollten die Jugendlichen auf den richtigen »sozialistischen« Weg gebracht werden. Es gab 38 dieser Jugendwerkhöfe in der DDR.

Mir ist dieser Film bis heute im Gedächtnis. In einer Atmosphäre aus strengen Regeln, emotionaler bis hin zu physischer Gewalt wird eine Liebesgeschichte erzählt, die mich bewegt hat. Ich konnte mich gut in Jana hineinversetzen und ihre Gefühle verstehen. Mir gefiel Jan und ich konnte nachempfinden, warum sie sich zu ihm hingezogen fühlte. Ich fand es aber auch beeindruckend, wie gut beide im Jugendwerkhof scheinbar ohne jede Zuwendung des Personals zurechtkamen. Was mich heute interessiert ist, wie Personen, die tatsächlich in einem Jugendwerkhof waren, ihre Erfahrungen verarbeiten und wie sie heute darüber berichten würden.

Am kommenden Donnerstag, dem 25. Mai 2023 nimmt sich die Veranstaltung »Geschichten. Wie erzählen wir uns selbst?« im Humboldt Forum diesen und anderen Fragen an. Zu Gast wird der Psychoanalytiker, Psychiater und Sachverständige Hannes Uhlemann sein, der sich mit den Nachwirkungen traumatischer Erfahrungen beschäftigt, insbesondere mit Erfahrungen, die Menschen in Jugendwerkhöfen oder in Kinderheimen oder auch in politisch motivierter Haft in der DDR gemacht haben.

Für die Verarbeitung von Erfahrungen und Erinnerungen setzt die Psychotherapie auf die Kraft des Erzählens. Erlebnisse in Worte zu fassen und erzählbar zu machen, hilft, sie biographisch zu integrieren und zu lernen, mit ihnen zurechtzukommen.

Die Veranstaltung »Geschichten. Wie erzählen wir uns selbst?« weitet die Beschäftigung mit Erinnerung aus und befragt neben Hannes Uhlemann auch die Schriftstellerin Annett Gröschner und die Romanistin Marie Jacquier zum Thema. Wie verhalten sich Erinnerung und Erzählung zueinander? Annett Gröschner hat mit ihrem Nachwenderoman »Moskauer Eis« (2000) die alltägliche Wirklichkeit der DDR eindringlich eingefangen. Marie Jacquier erforscht die Autorschaft in der zeitgenössischen französischen Kunst und Literatur.

Zusammen mit Uhlemann werden Gröschner und Jacquier versuchen, Antworten zu finden auf die Fragen: Wie wird aus gelebtem Leben Erinnerung? Und welche Bedeutung spielen Erinnerungen in Erzählungen? Oder auch: wie helfen Erzählungen, uns zu erinnern?

Moderieren wird das Gespräch die Philosophin Catherine Newmark.

Kommt vorbei! Hier geht es zu den Tickets: Geschichten | Wissenschaft im Humboldt Forum

Die Veranstaltung ist Teil der Reihe »Erinnern – Erzählen« des Formates MitWissenschaft, das regelmäßig wissenschaftliche Fragestellungen für ein breites Publikum aufbereitet und zur Diskussion stellt. Die folgende Veranstaltung findet am 29. Juni 2023 statt und widmet sich dem Thema konkurrierender Erinnerungsgemeinschaften.

Carolin Kaever gehört zum Programmteam »Der Palast der Republik ist Gegenwart«. Geboren und aufgewachsen im Nordosten Berlins studierte sie Amerikanistik, Hispanistik sowie Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Universität Leipzig und arbeitete danach vorwiegend an Theatern in Berlin und Baden-Württemberg. Seit September 2021 ist sie Programmreferentin beim Projekt »Palast der Republik« der Stiftung Humboldt Forum.

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