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»Endlich hat mir jemand mein eigenes Leben genau erzählt!«

von Hanno Hochmuth 31.03.2023, 12 Min. Lesezeit

Erfahrungen aus der Ausstellung »Ost-Berlin. Die halbe Hauptstadt«

Besucher*innen vor der Ost-Berlin-Ausstellung im Ephraim-Palais, Berlin 2019
Foto: Hanno Hochmuth
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Wir vom Team des Themenschwerpunktes »Der Palast der Republik ist Gegenwart« erarbeiten derzeit eine Ausstellung zum Palast. Die Eröffnung ist für Mai 2024 geplant. Hanno Hochmuth ist Mitglied unseres beratenden Gremiums Sounding Board. Er war an der Ausstellung »Ost-Berlin. Die halbe Hauptstadt« beteiligt und berichtet hier von seinen Erfahrungen.

Es gibt mehr als nur ein einziges Ost-Berlin. Die Menschen haben sehr unterschiedliche Erfahrungen mit der Hauptstadt der DDR gemacht. Daher gibt es auch viele unterschiedliche Erinnerungen an die Stadt. Eine Ausstellung zur Geschichte Ost-Berlins sollte diesen unterschiedlichen Perspektiven Rechnung tragen. Einen solchen multiperspektivischen Ansatz verfolgten wir vor vier Jahren in unserer Ausstellung »Ost-Berlin. Die halbe Hauptstadt«, die vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) in Kooperation mit dem Stadtmuseum Berlin kuratiert wurde. Sie war von Mai bis November 2019 im Ephraim-Palais im Ost-Berliner Nikolaiviertel zu sehen und zog mehr als 62.000 Besucher*innen an. Unser Ziel war es, das Wechselspiel von diktatorischer Herrschaft und Alltag in der Hauptstadt der DDR in den 1970er und 1980er Jahren zu zeigen. Dabei versuchten wir, die unterschiedlichen Erfahrungen zu reflektieren, die Menschen aus Ost und West in Ost-Berlin gemacht hatten. Wir wollten aber auch einen Dialog zwischen den Generationen anstoßen, indem wir die Perspektive einer jüngeren Generation einbezogen, die erst nach dem Fall der Berliner Mauer geboren wurde.

Um diese unterschiedlichen Perspektiven aufzunehmen, strebten wir eine möglichst breite Beteiligung an. Diese Partizipation sollte jedoch nicht nur während der eigentlichen Ausstellungzeit erreicht werden. Sie sollte sich nicht auf reine Mitmachangebote für die Besucher*innen beschränken. Vielmehr zielten wir auf eine Partizipation im Vorfeld durch die Zusammenarbeit verschiedener Personen während der Erarbeitung unserer Ausstellung. Das Konzept wurde von Studierenden des Masterstudiengangs Public History entwickelt, den die Freie Universität Berlin seit 2008 in Kooperation mit dem ZZF anbietet. Der Studiengang beschäftigt sich mit öffentlichen Darstellungen von Geschichte und erarbeitet Formate zur Präsentation von Geschichte für die Öffentlichkeit. Für unsere Ausstellung »Ost-Berlin« entwickelten die Studierenden eine Reihe von partizipativen Ideen, die wir gemeinsam umgesetzt haben.

Studierende des Masterstudiengangs Public History am Müggelturm, Berlin 2019
Foto: Hanno Hochmuth

Auf der Website zur Ausstellung betrieben die Studierenden einen Blog. Der OstBlogBerlin enthielt circa 100 Beiträge über Ost-Berlin sowohl von den Public History-Studierenden als auch von Personen, die an der Ausstellungserarbeitung beteiligt waren. Dazu gehörten u.a. Schüler*innen von mehreren Berliner Oberschulen. Einige entwickelten digitale Schnitzeljagden durch Ost-Berlin. Schüler*innen eines Gymnasiums aus dem Bezirk Prenzlauer Berg führten Feldforschungen zur Geschichte der Greifswalder Straße in der Nähe ihrer Schule durch. Unter der Leitung von Public History Studentin und Projektmitarbeiterin Sara Stammnitz recherchierten und verfassten sie Geschichten über Geschäfte, Bars, Clubs und Fabriken. Ein Schüler fotografierte seine in Ost-Mode gekleidete Freundin auf dem Mittelstreifen der Straße. Andere befragten ihre Eltern und Großeltern, um Geschichten aus der Vergangenheit zu erfahren. Außerdem fotografierten die Gymnasiast*innen die Straße von heute und filmten sie aus dem Rückfenster einer Straßenbahn, um sie mit einem ähnlichen Film zu vergleichen, der 1990 aus einer Straßenbahn in der Greifswalder Straße aufgenommen wurde.

Die visuelle Darstellung von Ost-Berlin spielte in der Ausstellung eine zentrale Rolle. Auf der Website veröffentlichten wir einen Aufruf zum Einreichen von Fotos. Wir fragten nach historischen Privatfotos aus Ost-Berlin und Aufnahmen von heute, die Hinterlassenschaften Ost-Berlins in der Gegenwart zeigen. Wir baten die Leute, ihre Bilder zusammen mit einer persönlichen Geschichte zu den Fotos hochzuladen. Auf diese Weise bereicherten die Teilnehmer*innen des Fotoaufrufs die fotografische Sammlung des Stadtmuseums. Ebenso richteten wir in der Ausstellung einen Raum für persönliche Gegenstände ein, der den Namen »Mein Ost-Berlin« trug. Hier zeigten wir verschiedene Objekte und die dazugehörigen Geschichten von ganz »normalen« Ost-Berliner*innen. Hinzu kamen Objekte aus den Regionalmuseen in den zwölf Berliner Bezirken, die mit dem Stadtmuseum kooperierten. Ursprünglich hatten wir geplant, eine Vitrine leer zu lassen, um die Besucher*innen einzuladen, während der Ausstellung eigene Objekte beizusteuern, doch es erwies sich als zu kompliziert und zeitaufwendig, dies auf angemessene Weise zu begleiten, sodass wir beschlossen, alle Objekte und Geschichten im Voraus zu sammeln und die ausgestellten Objekte alle drei Wochen zu wechseln. Der Raum »Mein Ost-Berlin« stellte sich als einer der beliebtesten Räume in der gesamten Ausstellung heraus, die insgesamt aus 20 Räumen bestand und etwa 1.000 Objekte zeigte.

Es wäre nicht möglich gewesen, all diese Objekte zu finden und auszustellen, ohne auf die umfangreiche Sammlung des Stadtmuseums und das Fachwissen seiner Mitarbeiter*innen zurückzugreifen. Da die Mehrheit aus Ost-Berlin stammt, war diese Ausstellung für viele von ihnen etwas sehr Persönliches. Bei der Erarbeitung der Ausstellung führten wir viele engagierte und produktive Debatten über den Charakter Ost-Berlins und der ostdeutschen Diktatur. Dies mündete in eine Vielzahl von Themenräumen in der Ausstellung, zum Beispiel zur Mode und zur Kulturszene von Ost-Berlin. Die einzelnen Räume wurden jeweils durch verschiedene Teammitglieder erarbeitet, wodurch die Räume unterschiedliche Handschriften erhielten. Außerdem nutzten wir eine der Mitarbeiterversammlungen des Stadtmuseums, um die Mitarbeitenden zu bitten, drei Begriffe zu notieren, die er oder sie mit Ost-Berlin assoziiert. Das Ergebnis dieser Sammlung wurde auf die Stufen des Treppenhauses im Ephraim-Palais gedruckt, die zu den drei Etagen der Ausstellung führten.

Eine weitere Möglichkeit, das Fachwissen im Vorfeld der Ausstellung zu erweitern, bestand darin, Kolleg*innen aus anderen Museen, Historiker*innen und Journalist*innen zur Teilnahme an einem Fachbeirat einzuladen. Schließlich wurden alle diese Expert*innen gebeten, ihre eigenen Perspektiven auf Ost-Berlin zu veröffentlichen. Die einzelnen Aufsätze wurden in einem Essay-Band mit dem Titel »Ost-Berlin. 30 Erkundungen« zusammengefasst, der von Jürgen Danyel herausgegeben wurde. Darüber hinaus baten wir angehende Journalist*innen der Universität der Künste Berlin (UdK), ein Ausstellungsjournal zu schreiben. Diese Zeitschrift wurde allen Besucher*innen der Ausstellung ausgehändigt. Sie enthielt Artikel zu verschiedenen Themen, die in der eigentlichen Ausstellung kaum erwähnt wurden. Durch Beiträge zum queeren Ost-Berlin und zur aktuellen Gentrifizierung des Berliner Ostens hatte das Journal einen ergänzenden Charakter und erweiterte die Perspektiven des gesamten Ausstellungsprojekts.

Die Teilhabe an der Ausstellung fand größtenteils im Vorfeld statt. Wir wollten aber auch die Partizipation an der eigentlichen Ausstellung während ihrer Laufzeit erweitern. So konnten die Besucher*innen einen alten Fahrkartenautomaten bedienen, eine originale Sportjacke aus dem Sport und Erholungszentrum (SEZ) anprobieren und ihre Antworten auf die Frage hinterlassen, was ihr Symbol für Ost-Berlin sei und wie mit dessen Überresten umgegangen werden sollte. Darüber hinaus haben wir versucht, Menschen einzubeziehen, die im Museum normalerweise keine Stimme haben, obwohl sie in der Ausstellung immer präsent sind. Deshalb baten wir das Aufsichtspersonal, in der Ausstellung als »Hosts« zu fungieren. Anstatt zu belehren: »Nicht anfassen!«, hatten sie nun die Möglichkeit, ihre eigenen Erfahrungen und Erinnerungen an Ost-Berlin mit den Besucher*innen zu teilen. Die meisten von ihnen besitzen einen ostdeutschen Hintergrund und nahmen dankbar ihre neue Rolle an.

Der Erfolg unserer Ausstellung über Ost-Berlin lässt sich auch auf den Zeitpunkt und den veränderten Zeitgeist zurückführen. Zeitgleich mit der Ausstellung, die am 30. Jahrestag des Mauerfalls endete, gab es ein neues Interesse an den Hinterlassenschaften des Ostens und an den Problemen des langen Prozesses der deutschen Wiedervereinigung. Ost oder West spielen in der deutschen Hauptstadt immer noch eine große Rolle. Und es ist immer noch eine Frage, woher man kommt. Bei meinen Führungen durch die Ausstellung habe ich oft gemerkt, wie skeptisch mich manche Besucher*innen anfangs angeschaut haben. Die meisten von ihnen kamen aus Ost-Berlin und dachten offenbar, ich sei ein junger Westdeutscher, der ihnen jetzt ihr eigenes Leben erzählen wolle. Aber sobald ich beiläufig zu erkennen gab, dass ich selbst in Ost-Berlin aufgewachsen bin, begannen sie zu lächeln und zuzuhören. Meine Anerkennung als Kurator beruhte also oft nicht so sehr auf meiner Expertise als Historiker, sondern auf meiner eigenen Herkunft.

Besucherinnen in der Ost-Berlin-Ausstellung, Berlin 2019
Foto: Hanno Hochmuth

Viele Besucher*innen schienen mit der Ausstellung sehr zufrieden. Die breite Beteiligung im Vorfeld hat es uns offenbar ermöglicht, viele unterschiedliche Perspektiven auf Ost-Berlin zu präsentieren, mit denen viele Besucher*innen etwas anfangen konnten. Allerdings gab es auch sehr kritische Äußerungen, die man im Besucherbuch nachlesen konnte. Einige meinten, die Ausstellung würde die Repression in der SED-Diktatur zu wenig thematisieren, während andere im Gegenteil bemängelten, dass Ost-Berlin viel zu grau dargestellt werde. Die überwiegende Mehrheit der Einträge im Besucherbuch lobte jedoch die Ausstellung für ihren differenzierten Ansatz. Die Menschen fühlten sich durch diese Ausstellung offenbar repräsentiert und hinterließen dies im Besucherbuch mit Kommentaren wie diesem: »Endlich hat mir jemand mein eigenes Leben genau erzählt!«

 

Der Text erschien zunächst in englischer Sprache unter dem Titel: Advanced Participation by Participation in advance. Public History as Shared Authority at the Exhibition «Ost-Berlin. Die halbe Hauptstadt”, in: Thinkering. Blog des Luxembourg Centre for Contemporary and Digital History (C²DH), 19.03.2021, URL: https://www.c2dh.uni.lu/thinkering/advanced-participation-participation-advance-public-history-shared-authority-exhibition.

Dr. Hanno Hochmuth ist Historiker am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF), lehrt Public History an der Freien Universität Berlin und forscht zur Zeitgeschichte Berlins. Er war Ko-Kurator der Ausstellung »Ost-Berlin. Die halbe Hauptstadt« im Stadtmuseum Berlin und ist Mitglied im Sounding Board zur geplanten Ausstellung »Der Palast der Republik ist Gegenwart« im Humboldt Forum.

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