9. November 1989
Der Große Saal im Palast der Republik war am Abend des 9. November 1989 in einer Variante für 4.200 Plätze eingerichtet. Auf dem Programm stand das Konzert »Classics« mit einer Mischung aus Pop und Klassik. Aus Leipzig war Karussell, eine der bekanntesten Rockbands der DDR, angereist, aus Halle waren die Philharmoniker mit ihrem Dirigenten Olaf Koch gekommen. Auf der Bühne sollten an diesem Abend unter anderem Dirk Zöllner, IC Falkenberg, Anke Schenker und Matthias Freihof singen.
Bis kurz vor Veranstaltungsbeginn traf Volker Büttner, Chefregisseur im Palast, letzte Vorbereitungen. Ursprünglich wollte er zu Händels »Messias« mittelalterliche Bilder auf die großen Leinwände projizieren. Doch die Stimmung im Land brachte ihn auf eine andere Idee. Bei der Nachrichtenagentur ADN besorgte er sich Fotos von der bislang größten Demonstration in der DDR, die wenige Tage zuvor am 4. November mit einer Kundgebung auf dem Berliner Alexanderplatz stattgefunden hatte, und nutzte sie für die Inszenierung:
»Und [beim Lied] ›Ich weiß, dass mein Erlöser lebt‹, da haben wir die wunderbare Einstellung, wo diese knappe Million Leute dasteht. […] Und wir hatten gesagt, also ich möchte bitte eine Rückfahrt von dieser Totalen haben. Alles sieht aus wie Fliegendreck. Und nach zwei Minuten 30 Sekunden haben die Leute gesehen, das ist die Million Demonstranten. ›Ich weiß, dass mein Erlöser lebt‹ und dann kommen ja Pauken und dann kommt Halleluja. Und die Leute waren außer sich. Die hatten das alle verstanden, was da läuft.«(1)
Zur selben Zeit sammelten sich bereits Menschen an den Grenzübergängen Berlins – in Ost und West. Politbüro-Mitglied Günter Schabowski hatte am Abend in einer Pressekonferenz eher beiläufig die sofortige Reisefreiheit verkündet. Die Tagesschau meldete kurze Zeit später »DDR öffnet Grenze«. Immer mehr Menschen strömten in der Folge an die innerstädtischen Grenzübergänge, um zu sehen, ob die Meldung stimmte. Um 23:30 Uhr öffneten Sicherheitskräfte den ersten Grenzübergang an der Bornholmer Straße.
Das Konzert im Palast war da bereits lange zu Ende. Volker Büttner erinnert sich: »Und ich weiß noch, dass ich mit meinem Bruder so 23:00 Uhr und ’n paar Zerquetschte nach Hause ging. Und ich sag, ich bring dich noch bis zum Alex und es waren keene Leute auf der Straße. Das ist uns aber nicht aufgefallen. Ich habe dann später Radio und Fernsehen angemacht, und da ist mir klar geworden, was der Schabowski veranlasst hat mit seiner Stotterrede.«
Anke Schnabel ist Teil des Programmteams »Der Palast der Republik ist Gegenwart«. Geboren und aufgewachsen in West-Berlin ist sie als Historikerin und Kuratorin seit über 20 Jahren für Museen und Gedenkstätten tätig. Seit 2015 arbeitet sie für die Stiftung Humboldt Forum, aktuell im Team an der Sonderausstellung zum Palast der Republik mit dem Schwerpunkt Erinnerungsarbeit.
(1) Videointerview mit Volker Büttner, geführt von Julia Novak am 20.06.2023, sammlungenonline.humboldtforum.org (nach oben ↑)