»Retrotopia. Design for Socialist Spaces«
von Barbara Martinkat, Carolin Kaever 11.07.2023, 16 Min. Lesezeit
Seit geraumer Zeit beschäftigen wir uns mit dem Palast der Republik, mit seinem Standort, seiner Architektur, seinen gesellschaftspolitischen und kulturellen Funktionen, mit seinem Kulturprogramm oder etwa mit dem Palast als Erzählanlass und Bestandteil der (ost)deutschen Erinnerungskultur.
Heute, da der Palast der Republik wesentlich länger nicht mehr existiert als er je seine Besucher*innen erfreute, erscheint er umso mehr als eine Utopie: Ein von seiner gesamten Ausgestaltung, von der Architektur bis zur Innenausstattung als »Gesamtkunstwerk« konzipierter Ort, der nach Außen eine leistungsfähige und selbstbewusste DDR repräsentieren und im Innern mit seinen kulturellen Angeboten seine Besucher*innen zu neuen, sozialistischen Menschen formen sollte.
Damit war der Ost-Berliner Palast ganz auf der Höhe seiner Zeit und entsprach – wie wir spätestens nach unserer Beschäftigung mit den Kulturpalästen Ost-, Mittel- und Südosteuropas wissen – vergleichbaren Bestrebungen in der Architektur- und Designentwicklung der sozialistischen »Bruderländer«. Mit dem Aspekt der politischen Demonstration des Fortschritts einer sozialistischen Utopie mittels eines zeitgemäßen oder gar zukunftsweisenden Designs beschäftigt sich auch die Ausstellung »Retrotopia – Design for Socialist Spaces«.
Wer dem lange Zeit westlich bzw. westeuropäisch geprägten Stereotyp Glauben schenkt, der Sozialismus sei von Mangelwirtschaft und farbloser bis grauer Eintönigkeit geprägt, der wird schon beim Eintritt in den Ausstellungsraum, den man vom Foyer des Kulturforums aus erreicht, eines Besseren belehrt. Man betritt einen großen Raum mit dunkelgrau gestrichenen Wänden und hellen, Durchblicke gewährenden Stellwänden, vor denen sich eine bunte Welt aus Design-Objekten und -Entwürfen präsentiert, die erst einmal verwirrt und bei der man aufgrund fehlender Texte auch erst einmal um Orientierung ringt. Einen Überblick bietet ein umfangreiches Booklet zum Mitnehmen, das sich für den Rundgang als unerlässlich erweist. Dass man beim Betrachten der Exponate beständig im Heftchen blättern muss, ist etwas gewöhnungsbedürftig. Das Booklet eröffnet jedoch sehr schnell, was das Sensationelle an dieser Ausstellung ist: »Retrotopia« ist eine kollaborativ erarbeitete Ausstellung. Die Chefkuratorin Claudia Banz hat es nicht nur verstanden elf Kurator*innen-Teams für eine gemeinsame Ausstellung zu gewinnen, sondern überlässt ihren Kolleg*innen auch das Narrativ an der jeweiligen Designgeschichte. Einzige Vorgabe war, so scheint es, den Fokus auf herausragende landestypische Beispiele sowohl im Privaten als auch im öffentlichen Raum zu richten. Ganz konsequent sind so elf autarke Designkapseln entstanden, die untereinander durch inszenierte Blickachsen verbunden sind, wodurch interessante Verweise auf die Designlandschaften der benachbarten Regionen entstehen. So treffen zahlreiche unterschiedliche Positionen zwischen 1950 und 1989 aus den sich beteiligenden Ländern Estland, Litauen, Polen, Ungarn, der Slowakei, Tschechien, Kroatien, Slowenien, Russland, Deutschland oder der Ukraine aufeinander und entfalten ein Kaleidoskop von realisierten und visionären Gestaltungsentwürfen. Somit eröffnet sich für die Besucher*innen ein ganz neuer Blick und die Chance zu einer Neubewertung des Stellenwertes osteuropäischen Designs innerhalb der gesamteuropäischen Entwicklung dieser Epoche.
Besonders gefielen uns die wunderbar spacig anmutenden Staubsauger der Marke »Saturnas«. Diese kugelrunden Sauger sind nicht nur formschön, sondern auch das vermutlich ikonischste Beispiel für technologischen Fortschrittsglauben und Modernität im Litauen der 1960er Jahre. In Zeiten, als der Mensch begann, den Weltraum zu erobern, schien alles möglich zu sein. Die utopische Vision im Falle von »Saturnas« hieß vor allem Multifunktionalität. Und so wurden die Geräte, deren Formgestaltung an Kometen erinnert, etwa damit beworben, dass sie sich nicht nur zum Staubsaugen, sondern auch zum Wändestreichen eignen würden, ja gar fliegen könnten. Es blieb wohl ein Werbeversprechen, dennoch: Eine reizvolle Vorstellung so fliegend und staubsaugend durch die eigene Wohnung…
Erwähnenswert sind auch die Entwürfe des tschechischen Architektenpaares Věra Machoninová und Vladimír Machonin für das Hotel »Thermal« in Karlovy Vary (deutsch: Karlsbad). Sie sind ein herausragendes Beispiel für die Innenarchitektur in öffentlichen Gebäuden der späten 1960er und frühen 1970er Jahre. Im Hotel »Thermal« bilden Ausstattung, Materialien und Struktur eine bemerkenswerte Symbiose aus Architektur, Innenraumgestaltung und Umgebung, die beim Palast der Republik wohl ähnlich intendiert war. Nur im »Thermal« ist das Arrangement aus Pilzlampen, roten Ledersesseln, glitzernder Glaskunst und einem gänzlich roten Konferenzraum ein wenig mutiger und expressiver.
Vielleicht vermissen einige Besuchende weitergehende Erläuterungen, die das ausgestellte Design in den jeweiligen zeitlichen und gesellschaftlichen Kontext stellen. Weiterführende Informationen und Einblicke in die Design-Praxis der verschiedenen Länder des ehemaligen Ostblocks und Ex-Jugoslawiens sowie westlicher Herkunft haben die Ausstellungsmacher*innen in einem Ausstellungsteil zusammengetragen, der sich nicht im Kulturforum befindet, sondern in einem Raum im Kunstgewerbemuseum, im dortigen Untergeschoss. Man muss also den Ausstellungsraum verlassen, was leider nicht so eindeutig beschrieben ist.
Im Kunstgewerbemuseum ist aus vielen Fotos, Postern, Zeitschriften, Büchern, Filmen und weiteren Designobjekten eine Art »dreidimensionale Mindmap« entstanden, die zum Eintauchen einlädt. Aktueller Stand ist jedoch, dass aufgrund eines Wasserschadens dieser Teil der Ausstellung seit dem 5. Juli 2023 nicht mehr zugänglich ist und vermutlich bis zum Ende der Laufzeit am 16. Juli 2023 nicht mehr geöffnet werden wird. Schön wäre es, man könnte nach Abbau dieser sehr zu empfehlenden Ausstellung die wertvollen Ergebnisse Interessierten zugänglich machen.
Wir danken den Ausstellungsmacher*innen für diese erste umfassende und bemerkenswerte Sichtbarmachung der Geschichte des Designs in den ausgewählten ehemaligen sozialistischen Republiken und wünschen uns weiterführend eine tiefergehende Einordnung in die westeuropäische und globale Designentwicklung. Wir hoffen auf weitere solcher kollaborativen und vorurteilsbefreienden Projekte.
Schaut auch vorbei! Nur noch wenige Tage geöffnet – bis zum 16. Juli 2023 im Kunstgewerbemuseum / Kulturforum am Potsdamer Platz
Barbara Martinkat ist Kunsthistorikerin und Germanistin. Seit 2018 betreut sie als Bildredakteurin und Medienmanagerin für die Stiftung Humboldt Forum die Bereiche »Geschichte des Ortes«, »Ausstellungen« und Publikationen. Sie wuchs in der DDR auf und studierte in Greifswald und Berlin, wo sie mit Unterbrechungen seit 1992 lebt.
Carolin Kaever gehört zum Programmteam »Der Palast der Republik ist Gegenwart«. Geboren und aufgewachsen im Nordosten Berlins studierte sie Amerikanistik, Hispanistik sowie Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Universität Leipzig und arbeitete danach vorwiegend an Theatern in Berlin und Baden-Württemberg. Seit September 2021 ist sie Programmreferentin beim Projekt »Palast der Republik« der Stiftung Humboldt Forum.