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Máme resty

von Ralf Pasch 23.09.2024, 8 Min. Lesezeit

Schweigen über den Palast

Eine Schachtel mit Resten des Palastes der Republik in der Ausstellung »Hin und weg. Der Palast der Republik ist Gegenwart«, 2024
© Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss, Foto: Leon Ponndorf
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In die tschechische Sprache sind viele Worte aus dem Deutschen eingeflossen. Knedlik für Knödel, flaška für Flasche. Máme resty bedeutet wörtlich Wir haben Reste und meint: Wir haben noch etwas offen, eine Rechnung etwa.

Die Ausstellung über den Palast der Republik ist eine Reste-Schau, zeigt sie doch Überbleibsel eines Gebäudes, das an jener Stelle stand, an der sein Aufbau und sein Niedergang dokumentiert werden. Unter der Überschrift Hin und weg ist unweit des Ein- bzw. Ausgangs der Ausstellung ein Kästchen mit Resten zu sehen. Daneben steht der Motorblock eines Volkswagens, gegossen aus dem Metall des Stahlgerüsts, dem Skelett des untergegangenen Sauriers. Resty als Souvenirs zur Erinnerung an die gute oder schlechte alte Zeit.

Geschenkbox mit Bauschutt, V-4261, 2024
© Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss, Foto: Dominique Falentin

Ich war bei der Recherche zur Ausstellung einer der Interviewer, habe vierzehn Männer und Frauen gesprochen, die im Palast gearbeitet, ihn besucht oder sich anderweitig mit ihm beschäftigt haben – aus dem Osten wie aus dem Westen. Um Interviewpartner*innen zu finden, hängte ich in meinem Ost-Berliner Kiez einen Zettel auf, mit der Bitte, dass sich Menschen melden mögen, die über den Palast erzählen möchten. Daraufhin erhielt ich eine E-Mail, deren Absender berichtete, er habe beim Abriss des Palastes mitgearbeitet. Er sandte Fotos, die er während der Arbeit geschossen hatte. Angehängt war auch eine Schwarz-Weiß-Aufnahme aus Kindheitstagen: Der Absender mit Verwandten vor dem Palast. Und: Das Foto eines Pappkästchens mit Steinbrocken, einer Halbkugel aus Glas, einer verrosteten Schraube. Der Absender der Mail bot an, mir das Kästchen vorbeizubringen, als mögliches Exponat für die geplante Ausstellung über das Gebäude, das er mit abgerissen hatte. Wenig später stand er mit dem Kästchen in meiner Wohnung – Palast in a nutshell, der Palast in einer Verpackung, wie man sie an Geburtstagen benutzt, mit Blümchen verziert. Ein Interview lehnte der Schenker ab.

Die Kurator*innen der Ausstellung fanden derart Gefallen an dem Objekt, dass sie entschieden, es in der Ausstellung zu zeigen. Als dies feststand, fragte ich erneut, ob der Spender nicht doch ein Gespräch mit mir führen würde. Er lehnte erneut ab. Ich fragte nicht weiter nach, sondern sah ein: Er war nicht bereit über die resty zu reden. Diese Rechnung musste offenbleiben. Doch zwischen seinem Foto aus Kindheitstagen und dem Palast in a nutshell entstand ein Spannungsfeld, in dem auch ich mit einem Mal stand. Mit der Frage: Welche Rechnungen habe ich mit der Generation offen, die den Palast erbaut hat.

Ich betrat sein Foyer zum ersten Mal als Kind, Ende der 1970er Jahre, mit meinem Großvater (der die tschechische Sprache beherrschte) und Tante Rose, die das Gebäude »Erichs Lampenladen« nannte. Diese Bezeichnung, behauptete einer meiner Interviewpartner steif und fest, habe es gar nicht gegeben. Ist der Zeitzeuge vielleicht doch der größte Feind des Historikers, weil er immer alles besser weiß?

In meinen Interviews waren die Rollen zunächst klar verteilt: Ich stellte die Fragen und erwartete Antworten. Doch unsere Treffen waren, das wurde schnell klar, so etwas wie Zeitzeugengespräche, sie wurden eine Art Kumpanei. Ich saß auch als »Zeuge« dort, mit meinen resty im Rucksack, mit all meinen offenen Rechnungen. Und so ließ ich mich gelegentlich dazu hinreißen, ungefragt Antworten zu geben. Manchmal lagen mir Fragen auf der Zunge, die ich dann doch nicht stellte. Umgekehrt ging es meinen Gesprächspartner*innen genauso, sie »verschwiegen« Gedanken, weil sie ihnen nicht wichtig schienen oder weil sie nicht erzählt werden wollten. Was hätten sie gesagt, was verschwiegen, wäre ich mit einer Westbiografie in das Gespräch gegangen?

Máme resty bedeutet also: Wir haben eine Rechnung offen. Manchmal bleibt etwas so lange offen, bis niemand mehr weiß, wer eigentlich wem was zu zahlen hat. Die gemeinsamen und die getrennten Erinnerungen der Ossis und der Wessis lagern sich im kollektiven Gedächtnis ab, irgendwann vielleicht im vereinigten Unterbewusstsein. Für viele Ossis der Generation, die komplett in der DDR sozialisiert wurden und der Meinung sind, dass doch nicht alles so schlecht war, sind resty wie Gallensteine, es sind jene Dinge, die vielleicht doch schlecht waren, über die sie aber nicht reden wollen – oder nicht können. Oder weil sie über das, was in ihren Augen nicht schlecht oder gut war, nicht reden dürfen – jedenfalls unterstellen viele das ihrem Gegenüber im Ost-West-Gespräch. Die Wessis fremdeln damit, weil sie der Meinung sind, man könne, ja, man müsse doch über alles reden.

»Den Glauben, das Reden komme den Wirrnissen bei, kenne ich nur aus dem Westen«, schreibt die aus Rumänien stammende Nobelpreisträgerin Herta Müller, die vor der Drangsalierung durch die rumänische Securitate nach Westdeutschland floh. Müllers Überzeugung: »Reden bringt weder das Leben im Maisfeld in Ordnung, noch das Leben auf dem Asphalt.« Und so, stellt sie fest, gibt es eben »Dinge, über die geschwiegen werden muss«. Klar ist für sie eines: »Auch wenn die Ostdeutschen dazu nichts mehr sagen und die Westdeutschen darüber nichts mehr hören wollen, lässt mich dieses Thema nicht in Ruhe.« Sie meint »die Hinterlassenschaften« der »gesteuerten Verwahrlosung der Menschen in der Diktatur«. Diktatur – auch so ein resty, über den wir Ossis und Wessis gut streiten können.

Vielleicht hilft die Palast-Ausstellung, das Ost-West-Gespräch fortzuführen und sich wenigstens für einen Moment zu »vereinigen«? Im Sinne des Rabbiners, Philosophen und Psychologen Tsvi Blanchard, der an der Humboldt-Universität lehrte: »Wir können in unserem persönlichen Leben der Geschichte nicht entkommen. Aber sie muss uns nicht voneinander entzweien, wenn wir es nicht wollen.« Vielleicht hilft es bei der Vereinigung in progress auch mal zu schweigen. Das macht mitunter ein Gespräch überhaupt erst möglich. Und manchmal sagt ein Kästchen mit resty mehr als tausend Worte.

Literatur: Herta Müller: Der König verneigt sich und tötet, München/Wien 2009.

Ralf Pasch (Jahrgang 1967) ist Journalist und Buchautor. Er wurde in Thüringen geboren und lebt seit 2015 in Berlin. Er interviewte für die Ausstellung über den Palast der Republik, Menschen, die das Gebäude erbaut, darin gearbeitet oder es besucht haben.

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