divider

Eine unheimliche Begegnung mit dem Schlossherrn

von Julius Jung 24.01.2025, 13 Min. Lesezeit

Bericht aus dem »Palastkonsulat für Erinnerungen und Objekte«

Bühnenaufbau für das »Palastkonsulat für Erinnerungen und Objekte« in der Mechanischen Arena im Foyer des Humboldt Forums, Juni 2024
© Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss, Foto: Julius Jung
0

Da alle am Seminar zum Palast der Republik beteiligten Studierenden aus sehr unterschiedlichen Fächern kamen, war unsere Gruppe äußerst interdisziplinär aufgestellt. Wir hatten alle unterschiedliche Zugänge zum Palast der Republik und zu den Interpretationen seiner Bedeutung. Doch waren wir uns alle einig, dass der Palast als kulturelles und politisches Zentrum der DDR einen prominenteren Platz in der deutschen Geschichte verdient hat, als ihm in den Jahren seit seinem Abriss zuteil wurde. Zudem waren wir der Ansicht, dass er Unerledigtes in der deutsch-deutschen Geschichte repräsentiert und sein Abriss eine Lücke in der Geschichte hinterlassen hat, die durch den Wiederaufbau des Berliner Schlosses verdeckt wurde.
Berlin war im 20. Jahrhundert die Hauptstadt von vier verschiedenen, deutschen Nationalstaaten, deren architektonischen und städtebaulichen Überreste das heutige, eklektische Stadtbild prägen, an denen sich die neuere deutsche Geschichte ablesen lässt.
Unserer Seminargruppe war es wichtig, den Palast wieder sichtbar zu machen, ihn aus dem Jenseits zurück in die Gegenwart zu holen. Nach der Vorbereitung, dem Schreiben von Texten, der Auswahl von Objekten aus dem Palast sowie Mobiliar aus der DDR folgten die Logistik und der Aufbau und schließlich der Beginn unserer Projekttage, an denen das »Palastkonsulat für Erinnerungen und Objekte« für die Besucher*innen des Humboldt Forums geöffnet war.
Die Einrichtung unserer Konsulatsstube vermittelte den authentischen Eindruck eines Stücks ostdeutscher Vergangenheit. Im Zentrum stand ein sperriger Schreibtisch mit drei Stühlen, auf denen jeweils ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin des Konsulats und zwei Gäste Platz nehmen konnten. Dekoriert war der Raum mit Aktenschränken, Sideboards und diversem Nippes. Je nach subjektiver Perspektive fügte sich die Amtsstube in das gestalterisch heterogene Foyer des Humboldt Forums ein oder stach aus ihm hervor. Zwischen der majestätischen Schlossarchitektur mit dem großen Torbogen an einer Seite und der funktionalistisch-nüchternen Gestaltung des übrigen Raums schien das Konsulat wie eine weitere aufgeschlagene Seite aus dem Katalog der deutschen Geschichte.
Über dem Konsulat hing ein großes Schild, das die Aufforderung verkündete, »Bringt den Palast zurück!«, was als Einladung verstanden werden sollte, den Palast Geschichte für Geschichte, Erinnerung für Erinnerung zurückzubringen.
In der ersten Schicht, mit der wir das Konsulat eröffneten, arbeiteten Laura und ich zusammen. Begleitet wurden wir von Dominique und Carolin aus dem Projektteam am Humboldt Forum. Die Spannung war groß und bis zum letzten Moment befürchtete ich, dass unser Gesprächsangebot gar nicht angenommen werden würde, was sich als völlig grundlos herausstellen sollte.
Schon am ersten Tag wurde eine breite Spanne von Reaktionen, Ansichten und Erinnerungen zum Palast an uns herangetragen, wobei als erstes der Besuch eines freundlichen, älteren Herrn erwähnt werden soll, der sich uns ungläubig, aber freundlich lachend ankündigte: »Bringt den Palast zurück? Ich glaube, ich spinne!« Aufmerksam entgegnete Laura: »Wieso, haben sie Erinnerungen an den Palast?«
»Ja, schon, aber erst soll er weg und jetzt soll er wieder her, sollen wir die ganze DDR zurückbringen? Ich weiß ja nicht…« So kamen wir ins Gespräch mit dem Herrn mit dem herzerwärmenden Lachen. Im Verlauf unserer Unterhaltung stellte sich heraus, dass er ein gelegentlicher Gast im Palast gewesen war und so berichtete er vom Eis, das so teuer war, dass man es als selbstverständlich empfand, dass das Geschirr mit im Preis inbegriffen war und erzählte, dass der Palast der perfekte Treffpunkt war, da man dort immer Platz fand. Erinnern konnte er sich auch noch an den Bau des Palastes und sogar an das Schloss. Durch seine Erzählungen wurde die Geschichte für mich plötzlich greifbar, lebendig, als ich verstand, dass ein einziges Menschenleben genügt, um Zeuge einer Entwicklung von diesem Ausmaß zu sein.
Nach dem Gespräch traten die beiden Teammitarbeiterinnen an uns heran und fragten, ob uns das Gespräch mit dem freundlichen Herrn auf andere Gedanken gebracht hatte, nachdem das erste Gespräch des Tages einen so unerwarteten Verlauf genommen hatte. Zu Beginn unserer Schicht hatte als erster ein junger Mann unsere Stube betreten. Er hatte einen unauffälligen Eindruck gemacht und kam zielgerichtet auf uns zu. Voller Selbstbewusstsein betrat er das Konsulat und wie selbstverständlich ließ er sich auf einem der Besucherstühle nieder. Laura saß gerade am Schreibtisch und dem jungen Mann somit gegenüber, während ich etwas merkwürdig diagonal hinter ihr stand. Der junge Mann besetzte beide Besucherstühle, indem er seine Füße auf den leeren Stuhl legte. Nachdem er es sich gemütlich gemacht hatte, sprach er uns an: »Erzählt mir mal was über meinen Ort!«
»Also wir sind das ›Palastkonsulat für Erinnerungen und Objekte‹«, begann Laura, und wurde gleich von dem Mann unterbrochen: »Oh, wir sind hier also im Palast? Da muss ich ja aufpassen, was ich sage. Ich bin nämlich aus der BRD.« Laura machte daraufhin einen Vermerk auf einem Notizzettel.
»Oh, was schreiben Sie da auf?«, erkundigte sich der Mann sogleich und griff nach dem Papier. »Das muss hier ja auch alles ordnungsgemäß dokumentiert werden«, entgegnete Laura. Und damit entfernte sich dieses Gespräch in unserem Konsulat aus dem Rauschen des Besucherverkehrs im Foyer und gewann eine merkwürdig dramatische Qualität. »Wer seid ihr überhaupt?«, fragte er nun wieder.
»Wir arbeiten hier. Wir sind Angestellte im Palast«, nahm Laura die Rolle einer Beamtin ein, wobei ich nicht verstand, ob sie sich auf das wie auch immer geartete Spiel einließ, das sich hier vollzog oder ob sie in diese Rolle gezwungen wurde. Der junge Mann hatte etwas wildes, von sozialen Regeln befreites an sich, das es schwer machte, zu verstehen, welche Rolle er hier einnahm. Kannten sich die beiden? Arbeitete er hier? War das Spaß? Es fühlte sich ernst und angespannt an. »Wir sind von der Humboldt-Universität«, versuchte ich den Bann zu brechen.
»Von der Humboldt-Universität, das ist ja köstlich«, reagierte er, »Und was macht ihr dort?«
»Wir sind eine interdisziplinäre Gruppe von Studierenden.«
»Und was studiert ihr beide?«
»Ich mache Amerikanistik.«
»Ah, Amerika, der Coca-Cola-Kapitalismus… Und wieso wollt ihr den Palast dann wiederaufbauen und das Schloss abreißen?«
»Das wollen wir ja gar nicht! Uns geht es hier ja viel mehr um die Geschichten, die Menschen hier erlebt haben, um die Erinnerungen. Wir wollen, dass der Palast der Republik nicht vergessen wird.«
»Es ist natürlich auch aus Ressourcen-Gründen Blödsinn, das Schloss abzureißen und wieder neu aufzubauen«, ignorierte er unsere Erklärung. »Und dann baut ihr das Schloss wieder auf. Was hindert mich dann daran, mich dort an einen Schreibtisch zu setzen und Unterschriften dafür zu sammeln, dass das Schloss wiederaufgebaut wird?«
»Wir wollen den Palast ja auch gar nicht wiederaufbauen«, wiederholte ich.
»Der Palast der Republik musste ja abgerissen werden, wegen dem Asbest.«
»Musste er? Das ist ja die Frage…«, hakte Laura nach.
»Ja. Manche Gebäude sind ja darauf ausgelegt, nur für 30 Jahre zu stehen. Da war ja der einzig sinnvolle Weg, das Schloss wiederaufzubauen.«
»Warum hat man nicht den Palast wieder aufgebaut? Ohne Asbest versteht sich.«
Er hatte keine Antwort.
»Also, ich mag das Schloss! Ich bin gerne hier. Hier fühlt man sich so herrschaftlich und man hat vom Dach eine gute Aussicht. Außerdem passt es architektonisch einfach in die Stadt!«
Nun fragte Laura: »Entschuldigung, aber wer sind Sie eigentlich?«
Er grinste etwas gereizt: »Ich bin der Herr dieses Schlosses. Mir gehört das.«
Das Projekt »Palastkonsulat für Erinnerungen und Objekte« im Humboldt Forum hat mir gezeigt, dass dieser Ort selbst eine Art historische Verwerfung darstellt – eine Art Schnittpunkt zwischen starken Kräften, Ideologien und Zeiten, die übereinandergeschichtet liegen und sich manchmal ineinander verhaken, sodass sie in einem Beben wiederbelebt werden und zutage treten. Der Palast der Republik, das alte Berliner Schloss, die DDR und schließlich das heutige Deutschland: All diese Realitäten existieren hier auf eine Weise übereinander, nebeneinander und ineinander.
Dieses »Übereinanderschieben« der deutschen Geschichte, das unterirdische Murren der Vergangenheit mit all ihren ungelösten Fragen hinterlässt bei mir den Eindruck einer unruhigen, geradezu geisterhaften Anwesenheit in der Gegenwart. Es ist, als könnte hier etwas hervortreten, lebendig werden und für einen flüchtigen Moment die Besucher*innen mit in seine eigene Realität ziehen. Mit dem »Palastkonsulat für Erinnerungen und Objekte« betrat man nicht nur eine Bühne, ein Stück Vergangenheit, viel mehr wies es auf die Künstlichkeit seiner Umgebung hin und so eröffnete es in meinen Augen eine Perspektive auf eine Art Zwischenwelt, die von etwas viel Tiefgründigerem und oft Unheimlichem beseelt ist. Es ist, als sei das Humboldt Forum nicht nur eine Bühne, sondern auch ein Schauspiel.

Julius Jung studiert seit 2015 Amerikanistik und deutsche Literatur mit einem Schwerpunkt auf Semiotik, Epistemologie und Ontologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sein besonderes Interesse gilt dem Unheimlichen, das er in deutschen und amerikanischen Kontexten untersucht.

divider

Weitere Beiträge zum »Palastkonsulat«

divider
divider