Ein Aktenkoffer zwischen Tischdecken
Nicole Hartmann hat anlässlich der Ausstellung »Hin und weg. Der Palast der Republik ist Gegenwart« ein Interview mit ihrer Mutter Resi Hartmann geführt und dieses der Stiftung Humboldt Forum zur Verfügung gestellt. In dem Gespräch erzählte ihre Mutter von der Teilnahme an einem Frauen-Kongress, der im Palast der Republik stattgefunden hatte. Nicole Hartmann berichtet in ihrem Beitrag von dem Engagement ihrer Mutter für Frauen in der DDR und von deren Erinnerungen an den Kongress sowie darüber, was ihr als Tochter – die heute in einer Demokratie leben kann – das Gespräch bedeutet. Einen kleinen Auszug aus dem Interview findet Ihr in der aktuellen Publikation zum Palast der Republik, die parallel zur Ausstellung erscheinen wird.
Der dunkelbraune Aktenkoffer im Stubenschrank, zwischen den Tischdecken für Feiern und Feste, bedeutete meiner Mutter Resi Hartmann viel. Er ist Zeugnis eines besonderen Ereignisses in ihrem Leben: ihrer Teilnahme am XI. Kongress des Demokratischen Frauenbundes Deutschlands (DFD) am 4. und 5. März 1982 im Palast der Republik. Als Vorsitzende des DFD in unserem Dorf in Nord-Thüringen war sie als Kreis-Delegierte entsandt worden. Erst vor Ort, im Palast, erfuhr sie, dass sie nicht nur unter hunderten Frauen im Plenum sitzen sollte, sondern ein Platz im Präsidium für sie reserviert war. Dazu überreichte man ihr den Aktenkoffer mit allen wichtigen Unterlagen wie Delegiertenausweis, Programm, Referentenmaterial, thematischen Arbeitsheften und weiteren Broschüren.
Ich war 4 ½ Jahre alt und hatte natürlich wenig Vorstellung davon, wo genau meine Mutter war und warum sie ein paar Tage fort war. Ich habe nur verstanden, dass es bedeutsam war. Abends haben meine Schwestern, mein Vater, mein Opa und ich die Nachrichten geschaut, in denen vom DFD-Kongress berichtet wurde. Ich erinnere mich daran, wie ich sie im Fernsehen gesehen habe: Meine Mutter saß da mitten unter vielen Menschen, die scheinbar so wichtig waren, dass sogar das Fernsehen über sie berichtete. Ich weiß noch, dass ich erstaunt und stolz war.
DFD – das war damals schon ein Begriff für mich. Ich kannte ihn von den »DFD-Abenden«, zu denen meine Mutter regelmäßig ging. Oder von den »DFD-Frauen«, mit denen sie gemeinsam Veranstaltungen wie die Kindertagsfeiern, Lesecafés und Rentnernachmittage organisierte oder Pflanz- und Reinigungsaktionen an Dorfplätzen durchführte. Oft nahm sie mich mit. Die Atmosphäre war immer fröhlich, es wurde viel gelacht. Meine Mutter, die halbtags in Schichten in der Kaufhalle arbeitete, einen sechsköpfigen Haushalt, Garten und Vieh versorgte, strahlte aus, dass ihr dieses Engagement sehr wichtig war und Freude bereitete. Daneben setzte sie sich auch noch im Gemeinderat für die Belange des Dorfes ein und ich nahm sie als »viel unterwegs« wahr.
Vor wenigen Jahren begann ich zu ergründen, was genau es mit dem Koffer auf sich hat und woran sich meine Mutter erinnert. Ich fing an, sie zu befragen und mir alles genau erklären zu lassen. Allmählich verstand ich, was es in ihrem Leben für eine Rolle gespielt hat, als einfache Arbeiterin an einer so großen Konferenz in der Hauptstadt teilzunehmen, im Parlament zu sitzen und inmitten hunderter Frauen über wichtige sozialpolitische und gesellschaftliche Fragen zu diskutieren.
Frauen, die sich wie sie an ihren Wohnorten engagierten und die Probleme der Vereinbarkeit von Berufsleben und Erziehung oder die Schwierigkeiten kinderreicher Familien und Alleinerziehender aus konkreter Anschauung kannten. Frauen, die sich über Lösungen austauschen und voneinander lernen wollten. Frauen, die aber auch an das Versprechen des sozialistischen Staates glaubten, ihnen und ihren Kindern ein Leben in Frieden und Sicherheit zu gewährleisten und die mit eigener Tatkraft dazu beitragen wollten.
Auf dem Kongress waren nicht nur Frauen aus der DDR, viele waren aus Ländern weltweit angereist: von Polen, Ungarn, der Sowjetunion über Großbritannien, Griechenland und der BRD bis Irak, Indien, Kongo u.v.m. Es muss für meine Mutter ein unglaubliches Feuerwerk aus neuen Eindrücken und euphorisierenden Gefühlen wie Verbundenheit, Wirksamkeit, Stolz gewesen sein.
In einem unserer ersten Gespräche erzählte sie davon, wie sie die Beiträge internationaler Gäste z.B. aus Angola und El Salvador beeindruckt haben. Besonders das geschilderte Leid und die Not der Frauen aus El Salvador, das von jahrelangem Bürgerkrieg und Militärdiktatur geprägt war, haben sie erschüttert und, so sagte sie, ihr Glück spüren lassen, im Frieden leben zu können. Da wurde mir bewusst, dass dies für sie als Angehörige der ersten Nachkriegsgeneration und inmitten der Bedrohungen des Kalten Krieges so viel weniger selbstverständlich war als für meine Generation.
Im Aktenkoffer bewahrt meine Mutter neben den offiziellen Unterlagen auch die Berichterstattung zum Kongress aus Magazinen und Tageszeitungen auf, darunter die Zeitschrift Für Dich mit einem mehrseitigen Dossier. Auf den Titelblättern von Junge Welt und Das Volk vom 5. März 1982 ist sie im Präsidium zu sehen. Es gibt auch ein Kurzporträt von ihr aus dem Lokalteil des »Volk«, in dem ihre Reise nach Berlin erwähnt wird. Für ihre Orts- und Kreisgruppe hat sie ihre Eindrücke in einer Rede dokumentiert, deren Manuskript erhalten ist. In jedem Satz sind ihre Begeisterung und ihr eigenes Staunen über das Erlebte zu spüren.
Als Anke Schnabel, Kuratorin im Bereich Geschichte des Ortes am Humboldt Forum, von der geplanten Ausstellung zum Palast der Republik erzählte, fiel mir der Aktenkoffer und die Geschichte meiner Mutter ein und ich schlug vor, sie zu fragen, ob sie einverstanden sei, ihre Erlebnisse öffentlich zu teilen. Meine Mutter stimmte zu und so habe ich sie zu ihren Erinnerungen an den DFD-Kongress befragt und die Aufnahmen und das Bildmaterial dem Humboldt Forum zur Verfügung gestellt.
Es war nicht das erste Mal, dass ich meine Mutter interviewt habe. Schon oft habe ich unsere Gespräche aufgenommen, wenn sie aus ihrer Kindheit und Jugend, von der Familie, ihren Freundschaften, ihrem Arbeitsleben, ihren Vergnügungen und ihren Sehnsüchten zu erzählen begann. Es ist für mich ein reicher Schatz an Einblicken in das Leben einer Dorfgemeinschaft im Wandel der Jahrzehnte und politischen Systeme. Darin spiegelt sich ihre Verbundenheit zu einem Ort und seinen Menschen, die ich selbst nie so empfunden habe und die mich vielleicht gerade deswegen fasziniert. In all unseren Gesprächen habe ich aber nicht nur viel über meine Mutter erfahren, sondern auch über mich selbst. Mir wurde bewusst, wie sehr mich ihre Werte und Einstellungen geprägt und begleitet haben und welches Glück ich habe, alle Entscheidungen in meinem Leben in jeder Hinsicht frei treffen zu können. In meinem Engagement für eine lebenswerte, ökologisch und sozial gerechte Zukunft folge ich ihren Fußstapfen.
Nicole Hartmann ist promovierte Religionshistorikerin. Sie initiiert und arbeitet an Projekten und Kampagnen zu Klimaschutz und Demokratieförderung. Als Mitbegründerin der Donut Berlin Initiative, des lokalen Zweigs der internationalen Donut Ökonomie Bewegung, tritt sie als Speakerin auf und entwickelt Formate, die eine regenerative Wirtschaft greifbar machen und Menschen ermutigen, den gegenwärtigen gesellschaftlichen, destruktiven Kurs zu ändern.