21. Juni 1990
Das Tempo der Transformationen Deutschlands und Europas vor 35 Jahren war schwindelerregend – zwischen der Öffnung der Grenze zwischen Ungarn und Österreich am 11. September 1989 und dem Vollzug der Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 lagen nur gut 12 Monate. Schon zum 1. Juli wurden mit dem »Gesetz zum Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland« die grundlegenden Prinzipien der DDR als sozialistischer Staat so weitgehend aufgehoben, dass der Vereinigungsprozess faktisch unumkehrbar wurde.
Forderungen nach einer schnellen Vereinigung und der Einführung der D-Mark bestimmten den Wahlkampf für die erste freie Volkskammerwahl im März 1990 und brachten der »Allianz für Deutschland« aus CDU, DA und DSU den Sieg. Doch nach wie vor verließen im ersten Halbjahr wöchentlich tausende Menschen die DDR, da sie keine wirtschaftlichen Perspektiven in Ostdeutschland sahen.
Deshalb begannen nach der Bildung der neuen Regierung unter Lothar de Maizière sofort Verhandlungen, die Wirtschaft der DDR so schnell wie möglich den Regeln der sozialen Marktwirtschaft der Bundesrepublik anzupassen. Statt einer schrittweisen Annäherung der beiden grundverschiedenen Systeme kam es zu einer Radikalkur, bei der über Nacht eine neue Währung und das westdeutsche Sozial- und Rentensystem eingeführt, Löhne und Gehälter im Verhältnis 1:1 umgestellt sowie die Staatsbetriebe privatisiert werden sollten. Der in nur wenigen Wochen ausgehandelte Vertrag wurde bereits am 18. Mai 1990 in Bonn unterschrieben und zur Ratifizierung an die beiden deutschen Parlamente überwiesen.
Den Mitgliedern der Volkskammer wurde der Vertrag am 18. Juni vorgelegt und am 21. Juni 1990 folgten die 2. Lesung und namentliche Abstimmung im Volkskammersaal des Palastes der Republik. Es war den Mitgliedern der Volkskammer dabei bewusst, welches Risiko eine so schnelle und radikale Transformation für die Wirtschaft der DDR und die soziale Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger bedeutete. Der SPD-Abgeordnete Alfred Förster fasste die Tragweite des Vertrages als Berichterstatter des »Ausschusses Deutsche Einheit« zu Beginn klar zusammen:
»[Der] Vertrag […] greift tief in das Leben jedes Bürgers unseres Landes ein, steht er doch vor der Aufgabe, sich unter völlig neuen Arbeits-, Sozial-, Rechts- und Finanzbedingungen zu behaupten und mit Fleiß und Können seine Zukunft, die Zukunft seiner Familie und seiner Heimat zu gestalten.
Viele Bürger verbinden mit der Inkraftsetzung des vorliegenden Gesetzes große Erwartung und Initiative, andere auch Zweifel und Ängste. Jeder von uns, dem die Einmaligkeit und die Größe der zu bewältigenden Aufgabe bewusst ist, wird von dem einen wie von dem anderen nicht gänzlich frei sein.«
Die Protokolle der Sitzung dokumentieren eine engagierte und differenzierte Debatte. Parteiübergreifend wurde die Beunruhigung über das gewaltige Tempo der Geschehnisse ausgedrückt, dennoch überwog der Wunsch, die durch die Wahlen, die anhaltende Ausreisewelle und die Demonstrationen ausgedrückten Erwartungen der Menschen nach einer schnellen Einführung der D-Mark zu erfüllen.
Am Ende der Aussprache verkündete die Präsidentin der Volkskammer Sabine Bergmann-Pohl das Ergebnis dieser vielleicht folgenreichsten Abstimmung der letzten Volkskammer:
»Abgegebene Stimmen: 385
Ungültige Stimmen: keine
Mit Ja haben gestimmt: 302 Abgeordnete.
(Die Abgeordneten der Koalitionsparteien erheben sich von den Plätzen und spenden starken Beifall.)
Mit Nein haben gestimmt: 82 Abgeordnete.
Enthaltungen: eine
Damit wurden der Vertrag und die Beschlussempfehlung mehrheitlich angenommen«
Sie möchten es im Detail nachlesen? Hier können Sie das Protokoll der Sitzung der Volkskammer vom 21. Juni 1990 in der Mediathek des Deutschen Bundestages einsehen oder auch als Video abrufen:
www.bundestag.de
Zum Nach- und Weiterlesen:
Protokoll der 16. Sitzung der 10. Volkskammer der DDR vom 21. Juni 1990 | bundestag.de
Die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion 1990 | bundesstiftung-aufarbeitung.de
Alfred Hagemann ist Leiter des Bereichs »Geschichte des Ortes« der Stiftung Humboldt Forum. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Architektur- und Kulturgeschichte des Berliner Hofes im 18. Jahrhundert, historische Frauenforschung und die staatliche Selbstdarstellung der DDR. Der promovierte Kunsthistoriker kuratierte in den letzten fünfzehn Jahren eine Reihe kulturhistorischer Ausstellungen zur Geschichte Preußens und der DDR in Berlin und Potsdam.