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Palast der Erinnerung

von Lea Streisand 30.08.2024, 11 Min. Lesezeit

Lea Streisands kluger und humorvoller Text hier zum Nachlesen - vorgetragen im Humboldt Forum am 15. Juni 2024 im Rahmen des Themenwochenendes »Ohne Ende Palast«

Lea Streisand im Gespräch mit Roman Schmitz während der Veranstaltung »Geteilte Erinnerung – erzählen & zeigen« im Humboldt Forum, 15. Juni 2024
© Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss, Foto: Stefanie Loos
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Zum Themenwochenende »Ohne Ende Palast« am 15. und 16. Juni 2024 lud das Humboldt Forum ein, Geschichten, Erinnerungen und Erzählungen rund um den Palast der Republik zu teilen. Besucher*innen konnten ihre persönlichen Erinnerungsstücke und Erlebnisse dem Publikum vorzustellen. Anlässlich der Veranstaltung fand am 15. Juni eine Lesung mit der Berliner Schriftstellerin und Kolumnistin Lea Streisand statt, deren Beitrag wir hier im Wortlaut veröffentlichen.

Erinnerung gehört nie einem alleine.
Also die Gedanken sind frei, das schon.
Wobei.
Eigentlich nicht.
Ich kann nicht alles denken, so groß ist mein Kopf gar nicht, sondern immer nur das Denkbare, ich muss immer von mir ausgehen, jede Gedankenreise, jede Erinnerung, der rote Faden der Ariadne, beginnt beim Ich, jedes Mal wieder, am Eingang des Labyrinths.
Der Palast der Republik war ein brauner Glaskasten im Zentrum der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik; Kulturhaus, Parlamentssitz, »Lampenladen«, später Politikum, Krebserreger; nach Auflösung der Republik erst schnell verschlossen, dann langsam ausgeweidet und schließlich abgerissen.

Ich erinnere mich als Kind vom großen Parkplatz aus ins Foyer mit den Freitreppen hineingehen. Ich sehe die Kugellampen leuchten. Auf einem Podium hinter der Treppe singt Gerhard Schöne das Popellied. Von hier aus kann ich versuchen, mich durchzuwinden, von Assoziationsraum zu Assoziationsraum den Faden weiterzuspinnen, bis ich vielleicht irgendwo lande, wo ich vorher noch nicht war, »der große Saal hatte die Form eines symmetrischen Sechsecks«, lese ich, und sogleich gelange ich wieder dorthin, wo ich nie hinwollte… Sechseck, Davidstern, Schornsteine, Stolpersteine, Studierende der Humboldt Universität skandieren »Free Palestine from German Guild«, sechs Dekaden nachdem mein jüdischer Großvater dort zum Leiter der Sektion Geschichte ernannt worden war…

Meistens reißt der Faden unterwegs ab.
Weil man auf die Toilette muss.
Oder das Telefon klingelt.

»Mami, ick kann grad nich, ick muss arbeiten!«
»Wieso, DU hattest doch angerufen vorhin, ick konnte nur nich rangehen!«
»Ja, ach so, stimmt, ich wollte dich fragen, Palast der Republik, ich muss da morgen auftreten, also in diesem Humboldthain, Quatsch, -forum (Am Marx-Engels-Platz jedenfalls!) und die wollen die Geschichte von dem Besteck, das ihr damals geklaut habt.«
»Also weeßte Kind«, sagt meine Mutter, »ditt is echt nich in Ordnung, dass du deine ollen Eltern hier denunzierst als Kriminelle.«
»Ja entschuldige«, sage ich, »aber sie zahlen gut. Kannst du mir die Geschichte noch mal erzählen? Bitte!«

Es ist nicht einfach, eine Geschichte zu erzählen. Die Worte zu wählen und so aneinander zu reihen, dass ein Fremder ihnen folgen kann.
Versteht ihr mich?

Wo war denn jetzt der Faden?

Summt: [Die Gedanken sind frei…]

Also frei im Sinne von planlos, das ja.
Wie Vögel in einem Käfig, viel zu viele Vögel in einem viel zu kleinen Käfig – es ist reine Tierquälerei. Und wenn ich versuche, einen zu fassen, flattern sie alle durcheinander, schlagen sich gegenseitig mit ihren Flügeln die Köppe ein und reißen sich mit ihren Schnäbeln die Schwanzfedern raus. Aber sobald ich einen von ihnen äußere, ihn aus dem Käfig meines Gedächtnisses raushole, setze ich den Gedanken als Tatsache in die Welt, der alle anderen Tatsachen verändert.

Die Wirkung von Sätzen wie »Ich liebe dich« oder »Opa war bei der Stasi« kann jeder nachvollziehen. Indem wir sie aussprechen oder hinschreiben, verändern wir unsere Welt so grundsätzlich, ordnen die Struktur unserer Realität so unwiderruflich neu, dass wir dies, zumindest anfangs, nicht leichtfertig tun und uns nachher oft wünschen, wir könnten die Worte zurücknehmen, die Zeit zurückdrehen, das Geschehene ungeschehen machen.

Doch gesagt ist gesagt und wiederholen ist gestohlen.
Selbst wenn ich alle Dokumente vernichten könnte und alle Zeugen zum Schweigen brächte, müsste ich trotzdem noch selbst vergessen, was ich gesagt und damit getan habe und durch den Gewaltakt der versuchten Auslöschung dieser Tatsache, die doch niemals funktionieren kann, weil immer Spuren bleiben, irgendwo, würde das Gesagte im Verborgenen wachsen, hinter dem Vorhang, auf dem »Tabu« steht und den man nicht anrühren darf, sonst passiert etwas Schreckliches, wir wissen nicht was, aber wir wissen, dass es furchtbar sein wird und unsere Welt zerstören kann.

Meine Eltern haben Besteck geklaut am Tag ihrer Hochzeit im Palast der Republik. So geht die Legende. Ich hab meine Mutter noch mal gefragt. Sie waren im Standesamt, dann in den Offenbach-Stuben essen und dann mit dem Alten auf einen Drink in der Palastbar, die gerade neu eröffnet hatte. Der Alte war der Vater meines Vaters, Buchbinder, berühmt, gute Beziehungen.
Ich weiß nicht, wann diese Hochzeit war, und ich weiß nicht, wo dieses Besteck hin ist. Ich habe nur welches gefunden vom Interhotel, Forum Hotel, Hotel Stadt Berlin, wie das früher hieß. Da wurde der amerikanische Liebhaber meiner Großmutter immer untergebracht, wenn er zu Besuch kam, aber das ist eine andere Geschichte.

Ich weiß mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, dass ich am 24. Juli 1979 geboren wurde, ich kann mich nicht erinnern, aber die Quellen stimmen überein, deshalb gehe ich davon aus, dass es stimmt.
Ganz sicher weiß ich, dass ich am 2. Oktober 2015 geheiratet habe, auch das ist belegt und im Vorfeld dieser Eheschließung musste ich auf dem Standesamt einen Auszug aus dem Geburtenregister einholen, das ist eine Kopie der ersten amtlichen Daseinsdokumentation eines in Deutschland geborenen Menschen und auf meiner steht drauf: »die Ehe der Eltern ist seit dem 26. Oktober 1978 rechtskräftig geschieden.«
Wer nun einigermaßen rechnen kann – Juli geboren, Scheidung im Oktober des Vorjahres, also November, Dezember, Januar, Februar, März, April, Mai, Juni, Juli – erkennt hierin den Beweis für eine andere Geschichte, die meine Eltern mir erzählt haben und die ich bisher den Legenden zugeordnet hatte, nämlich die, dass der Tag der Scheidung meiner Eltern für meine Existenz von weit größerer Bedeutung war als der ihrer Heirat.

Sicher ist, der Palast der Republik wurde am 23. April 1976 eröffnet, die Ehe meiner Eltern wurde am 26. Oktober 1978 geschieden, irgendwann dazwischen muss ihre Hochzeit stattgefunden haben.
»Gerade erst eröffnet« kann auch ein Jahr bedeuten. Oder zwei. Zeit ändert Erinnerungen, Erinnerungen ändern Vergangenheit. Das Abstandsverhältnis von Ereignissen in der Erinnerung verändert sich mit dem Grad des Vergessens.
Ich gehe trotzdem davon aus, dass die Ehe meiner Eltern immerhin zwei Jahre gehalten hat. Die Zahl 76 sieht irgendwie richtig aus.

»Und als wir da wieder rauskamen«, erzählt meine Mutter, »aus dieser Palastbar, da zog dein Vater eine Handvoll Löffel aus der Tasche seines Samtjacketts.« Ich höre sie Lächeln am Telefon. Dann fügt sie hinzu: »Und Handtücher. Da hab ich sogar mitgemacht. Los steck die ein, hat er gesagt, wir brauchen doch Handtücher.«

»Hast du die noch?« frage ich.
»Die Handtücher? Nee!«, lacht sie.
So abwegig is der Gedanke nicht. Wir entstammen einer Dynastie von jüdischen Zwangsneurotikern. Der Name Streisand kommt von meiner Mutter, mein Vater hat den nur angenommen. Wir schmeißen nix weg und wir vergessen niemals. Glauben wir zumindest.
»Die Löffel«, sage ich.
»Keine Ahnung«, sagt sie, »Müsstick ma suchen. Kann aber gut sein, dass mir die einer von euch schon ausm Kreuz jeleiert hat.«
Einer von euch. Ick bin ihr einziges Kind. Und ick habe diese Löffel noch nie im Leben gesehen.

Lea Streisand (*1979 in Ost-Berlin) ist bekannt für ihre Radio-Eins-Kolumne »war schön jewesen« beim rbb. Ihr aktueller Roman »Hätt’ ich ein Kind« erschien 2022 bei Ullstein. Sie schreibt Essays u.a. für die taz, Berliner Zeitung und Jüdische Allgemeine. Im Wintersemester 2022/23 übernahm sie die Poetik-Dozentur der Uni Paderborn. Zusammen mit Michael Bittner und Heiko Werning ist sie Herausgeberin der satirischen Anthologie gegen Judenhass »Sind Antisemitisten anwesend?«. Das Buch erscheint am 2.9.2024 bei Satyr.

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